Otto Bretschneider

Diakonen-Portraits

Otto Bretschneider

Das Rauhe Haus gilt als „Brunnenstube der Inneren Mission“ und ist die Wiedergeburtsstätte des Diakonenamtes in den Kirchen der Reformation nach über tausendjährigem Dornröschenschlaf während der Kirchengeschichte.

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Lebensbilder von Diakonen des Rauhen Hauses

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Das Buch mit Lebensportraits von Diakonen des Rauhen Hauses "Genossen der Barmherzigkeit" als

Band 11 der gelben Buchreihe "Zeitzeugen des Alltags" von Jürgen Ruszkowski

Ein Beitrag aus dem Sammelband "Genossen der Barmherzigkeit"

er kann für 13,90 €  direkt bestellt werden.

Franke-Autobiographie

Wietholz-Autobiographie

Johann Hinrich Wichern, geboren am 21. April 1808, hatte angesichts des Kinderelends seiner Zeit das das Rauhe Haus 1833 als junger Kandidat der Theologie mit Hilfe einflussreicher Hamburger Bürger in dem Dorf Horn vor den Toren Hamburgs aus kleinsten Anfängen als „Rettungshaus“ für gefährdete Kinder und Jugendliche gegründet und aufgebaut.  Für seine immer umfangreiher werdende pädagogischeArbeit benötigte er schon bald Gehilfen.  Aus dem Kreis dieser Gehilfen entwickelte sich später der Beruf des Diakons.

Diakonenportraits

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Das Familienprinzip, in dem Wichern seine Schützlinge betreute und erzog, erforderte eine größere Anzahl von Gehilfen.  Im Sommer 1834 zog ein Bäckergeselle, namens Josef Baumgärtner, zu Fuß von Basel nach Hamburg, um Wichern als erster Gehilfe für ein mageres Taschengeld von 100 Mark im Jahr bei freier Kost und Logis als Betreuer einer „Knabenfamilie“ zur Hand zu gehen.  Nach drei Jahren übernimmt Baumgärtner ein eigenes neu gegründetes Rettungshaus in Mitau im Kurland.  1839 ermächtigte der Verwaltungsrat Wichern, der Ausbildung von Gehilfen im Rauhen Haus "die gröstmögliche Veröffentlichung zu geben".  Wichern ließ deshalb von 1843 an über die Gehilfen, schon damals Brüder genannt, eigene Jahresberichte erscheinen.  Auf ihre theologische Ausbildung in seinem "Gehilfeninstitut" verwandte er große Sorgfalt.  Aus seinen „Gehilfen“, die Wichern aus ganz Deutschland rief und die ihn bei seiner Erziehungsarbeit im Rauhen Haus unterstützten und von den Jungen der Erziehungsfamilien „Brüder“ genannt wurden, baute er den hauptberuflichen Mitarbeiterstab der Inneren Mission auf, die „Berufsarbeiter“, die als Hausväter in „Rettungshäusern“, als Strafvollzugsbetreuer oder als Stadtmissionare in ganz Deutschland und im Ausland bis hin nach Übersee tätig wurden.  

„Treue, gottesfürchtige Männer, so ernst als wahr, so klug als weise, in der Schrift bewandert, im Glauben gegründet, voll Liebe zum armen Volke, geschickt zu solch einem Umgang, der Menschen fürs Himmelreich gewinnt, wünschen wir in Scharen unter das Volk.“

Erst Jahrzehnte später nannte man diese „Gehilfen“ entgegen Wicherns ursprünglichen Vorstellungen Diakone.  Bis in die 1970er Jahre sprach man von der männlichen Diakonie.  Daneben gab es den Beruf der Diakonisse.  Danach wurden Ausbildung und Beruf im Rahmen der allgemein sich durchsetzenden Emanzipation auch für Frauen geöffnet.  Aus der Brüderschaft wurde die Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses.  Heute bildet die Fachhochschule des Rauhen Hauses in Hamburg Frauen und Männer zu Diplom-Sozialpädagog(inn)en und Diakon(inn)en aus.


Diakon  Otto Bretschneider , geboren am 29. März 1889 in Roßwein Kr. Leipzig, trat am 3. Januar 1911 zur Ausbildung zum Diakon ins Rauhe Haus ein.  Ab 1. November 1919 wirkte er zunächst als Stadtmissionar in Bremen.  1920 heiratete er Magdalena Götzky.  1927 übernahm er die Leitung eines Heimes des Jugendamtes Bremen für jugendliche Wanderer.  Nach Übernahme dieses Heimes durch die HJ arbeitete er ab 1933 beim Jugendamt in Bremen und wurde dort 1935 Sachbearbeiter in der Gefährdetenfürsorge.  Ab 1946 wirkte er beim Evangelischen Hilfswerk in Bremen, ab 1951 bei der Evangelischen Auswanderermission und Volksmissionar bei St. Martini in Bremen.  Am 1. Januar 1957 trat er in den Ruhestand. 

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Diakon Otto Bretschneider wurde am 29. März 1889 in Rosswein, Kr. Leipzig, geboren.

Otto Bretschneider berichtet selber über sein Leben:  „Ich war Mitglied eines Jünglingsvereins.  Auch gehörte ich dem CVJM an.  Und hier geschah das Wunderbare: Gott rief, ich folgte.  Ich erkundigte mich, wo eine Diakonenanstalt war.  Man nannte mir Moritzburg bei Dresden und Bethel bei Bielefeld und zuletzt auch das Rauhe Haus, die Wiege der Inneren Mission in Hamburg-Horn.  Ich stand, wie zu der Zeit jeder Diakon, in einem bürgerlichen Beruf, der vor Beginn der Ausbildung zum Diakon verlangt wurde.  Damals war ich in Marienberg im Erzgebirge als Bäckergeselle tätig und hatte eine Vertrauensstellung bei einem Arbeitgeber neuapostolischen Glaubens.  Wir haben uns oft über Glaubensfragen unterhalten.  Als ich ihn fragte, ob ich denn auch Apostolischer werden könne, verneinte er das, denn die 144.000 Auserwählten seien versiegelt.  Da wurde mir schon klar, dass an dieser Glaubensrichtung etwas nicht stimmte.  Nun musste ich aber, um Diakon zu werden, als gehorsamer Sohn meine Eltern befragen, denn deren Zustimmung war erforderlich.  Mein Vater, ein guter Christ, und meine Mutter, eine fromme Frau, bewegten die Frage hin und her und beleuchteten sie von allen Seiten, denn wer Diakon werden wollte, hatte zunächst auf Jahre hinaus keinen Verdienst.  Da wir brieflich nicht überein kamen, reiste ich kurzentschlossen nach Hause, im Herzen mit der Bitte zu Gott, meinem Vorhaben den Weg zu öffnen.  Mein Vater machte mich auf die Schwierigkeiten einer weiteren Ausbildung aufmerksam und legte mir nahe, dass meine Zukunft nicht gesichert sei, zumal aus meiner Heimatstadt ein Handwerker früher im Rauhen Haus ein Versager gewesen sei.  Mit der Vernunft belehrt, aber glühenden Herzens, der Sache unseres Herrn und Heilandes zu dienen, auch auf eine ungewisse Zukunft hin, bekam ich auf meine Bitte von den Eltern die Erlaubnis, in das Rauhe Haus einzutreten.  Mit welcher Freude ich wieder zu meiner Arbeitsstelle gereist bin, kann ich kaum beschreiben.  Nach einer gut überstandenen Operation konnte ich dann im Januar 1911 dem Rufe des damaligen Vorstehers des Rauhen Hauses, des Pastors Martin Hennig, Folge leisten.  Ich war die Nacht durchgefahren und traf am 3. Januar 1911 morgens gegen 10 Uhr mit meinem Köfferchen in Hamburg ein.  Nach einem kurzen Aufnahmezeremoniell – Handschlag und Willkommensgruß – begann die Laufbahn meines Diakonenlebens.  Meine erste Stellung war die des 4. Assistenten in der „Schönburg“ bei Bruder Hesse, der mir ein lieber Freund wurde.  Schön war sie nicht, die Schönburg.  Sie hatte ihren Namen von dem Spender bekommen.  Aber die Brüder Hesse, Ero, Fritz Weigert waren recht brüderlich zu mir, und das erleichterte mir das Einleben im Rauhen Hause.  Der Schlafsaal der Schönburg war nicht ansprechend.  Er war recht hoch und außerordentlich luftig und hatte nur ein Pappdach.  Der Ofen konnte den Saal nicht beheizen, und der Januar war kalt.  Der Fußboden war aus Stein.  Es gab nur zwei Wolldecken.  Wie habe ich die ersten Nächte gefroren!  Dann gab es eine dritte Decke, und da war mir schon wohler.

Im Rauhen Haus gab es viel Arbeit.  Das Gelände des Rauhen Hauses musste nachts bewacht werden.  Den Wachdienst hatten die Ausbildungsbrüder zu leisten.  Für mich begann die Nachtwache in der zweiten Nacht meines Dortseins.  Punkt 10 Uhr abends, wenn der letzte Glockenschlag verhallt war, musste der Torwächter die Holzknarre drehen und zwei bis drei Verse des Nachtwächterliedes singen: „Hört ihr Herrn und lasst euch sagen...“  Dann wurden sämtliche Türen und Fenster nachgesehen, ob sie verschlossen und die Petroleumlampen gelöscht waren.  Wie ein Soldat mit einem dicken Eichenpack bewaffnet und einem 30 Schlüssel enthaltenden Ring, zog der Wächterbruder durch das Anstaltsgelände.  Der Nachtwächter der Schicht von ½ 2 bis 7 Uhr früh hatte zu wecken und zur Andacht zu läuten.  Die Post wurde von der Pförtnerei geholt und zum Briefkasten durch di e Rosenhecke, an der großen alten Eiche vorbei, gebracht.  Dieser romantische Aufgang zum Rauhen Haus war an der Rudolfstraße gelegen.  Auch wurde ich als Schulhausbruder eingesetzt.  Zu den Aufgaben gehörten das Säubern der Schulräume incl. Staubwischen.  Andere Brüder hatten beispielsweise Ämter wie: Petroleumeinfüllen, Heizen, Staubwischen, Schulhausboden, Hofbruder oder in der Landwirtschaft.  Einige Brüder fuhren Milch und andere landwirtschaftliche Produkte aus.  Wir hatten zu meiner Zeit 1911 bis 1918 noch Schweine im Stall.  Die Sauen mussten die Ferkel angelegt bekommen, es musste aufgepasst werden, dass keines zertreten wurde.  In den Ländereien der Horner Landstraße existierte auch noch ein Esel, der die Abfälle transportierte.  Heute stehen auf diesen Ländereien Mietshausreihen.  Die Wiesen an der Luhe wurden verkauft.  Das Gut Jenfeld wurde landwirtschaftliches Zentrum.  Das Rauhe Haus hatte auch eine eigene Feuerwehr, eine uralte Spritze war unser eigen, der Teich diente als Löschwasserreservoir.  Im Winter konnte man darauf Schlittschuh laufen.  Später versickerte das Wasser des Teiches.  Heizung gab es noch nicht, sondern nur Kachelöfen.  Bruder Ero, später wurde er Professor in Reval, und Bruder Pridat mussten schwere Kohlensäcke in den Keller tragen und sahen dann aus wie Kohlenträger.  Ofenheizung und Petroleumbeleuchtung prägten den Alltag.  Bruder Sitzenstock hatte das Petroleum zu verwalten und war dafür verantwortlich, dass abends alle Lampen in den Häusern, in der Schule und in der ganzen Anstalt in Ordnung waren.  Es gab die unsterbliche Essenskarre; und wehe dem Bruder, der das Essen im Wechseldienst auszufahren hatte und sie irgendwo stehen ließ, sei es, dass er schnell abgerufen wurde oder aus Bequemlichkeit, er konnte sie dann aus dem Teich ziehen oder von irgendeinem Baum herunterholen.  So hatte jeder junge Bruder die ihm übertragene Aufgabe zu erfüllen, wie auch jeder Junge eine bestimmte Arbeit zu erbringen hatte.

Morgens früh um 7 Uhr gingen wir zur Andacht in den Betsaal.  Danach gingen die Jungen zur Schule.  Wir Brüder trugen halblange blaue Kittel.  Garderobe und Wäsche musste jeder beim Eintritt für ein Jahr vorweisen.  Als Vergütung bekamen wir im Monat eine Mark, später drei Mark Taschengeld.  Nach einem viertel Jahr kam ich nach Buschmühle bei Reppen, östlich von Frankfurt an der Oder, in Gehilfenstellung.  Meine Erlebnisse und Erfahrungen dort waren von besonderer Art.  Leicht war die Arbeit nicht.  Die dortige Anstalt hatte nur schwererziehbare Jugendliche bis zum Alter von 21 Jahren, teilweise „schwere Jungs“, die bereits mit der Halb- und Unterwelt in den Großstädten Bekanntschaft gemacht hatten und beim Entweichen aus der Anstalt von ihren alten Bekannten stets gestützt wurden.  Einige der Jungen trugen Spitznamen wie „Leipziger Otto“ oder „Halsabschneider“.  Ich selber war gerade 22 Jahre alt geworden.  Dort gab es für einen jungen, unerfahrenen Bruder reichlich „Kniearbeit“, sonst war der schwere Dienst nicht zu schaffen: Tagsüber Arbeit mit den Zöglingen auf dem Felde, spät abends Gebetsarbeit.  Nach einem Jahr kam ich in ein Rettungshaus in Gehlsdorf bei Rostock   Dort hatte ich auch die Großen bis zum 18. Lebensjahr zu betreuen.  In Gehlsdorf war die Arbeit auch schwer, aber ich war in einem Kreis von mehreren Brüdern, da die Anstalt 6 Familiengruppen hatte, 3 Knaben-, 2 Mädchengruppen und eine Familie für schulentlassene Jungen.  Wohl erst nach einem Jahr habe ich erstmals einen Sonntag frei bekommen.  Es wollte von den Mitbrüdern niemand die Familie der großen Jungen übernehmen.  Im Frühjahr 1914 kam ich zur weiteren Ausbildung ins Rauhe Haus zurück.  Am 1. August begann der erste Weltkrieg.  Die daheimgebliebenen hatten nun noch mehr zu leisten.  So war ich Familienleiter im Paulinum, in der Johannisburg und im Haus Eiche.  Daneben war ich als gelernter Bäcker für die Brotversorgung der Anstalt verantwortlich.  Das Rauhe Haus hatte damals eine eigene Bäckerei.  Auch hatte ich die Arbeitseinteilung für die Kinderanstalt vorzunehmen, alles in einer Person.

Am 24. Dezember 1914 wurde ich als Hilfsdiakon offiziell in die Brüderschaft aufgenommen.

Meine Ausbildung im Rauhen Haus wurde im Frühjahr 1915 durch meine Einberufung zum Militär unterbrochen.  Der militärische Ausbildungsdienst war für mich fast eine Spielerei.  Das konnten die Kameraden nicht begreifen.  Sie glaubten mir nicht, dass wir im Rauhen Haus eine so harte Schule durchzustehen hatten.  Im Feldzug bin ich trotzt zweimaliger Verwundung gnädig bewahrt worden.  So konnte ich nach der Heimkehr aus dem Krieg im Rauhen Haus die Ausbildung fortsetzen.

Pastor Fritz war derzeitiger Leiter der Inneren Mission in Bremen.  Als ich den Bremer Bahnhof verließ, gefielen mir sofort die Ein- bzw. Zweifamilienhäuser; ich dachte: Hier möchtest und könntest du arbeiten.  Um die Mittagszeit begab ich mich in die Georg-Gröning-Straße 29.  Auf dem Wege dahin – es war heller Sonnenschein – begegnete mir auf der gegenüberliegenden Seite ein kleiner Mann.  Wir gingen aufeinander zu und begrüßten uns.  Es war Pastor Fritz.  Ich sagte: Man sieht es dem Menschen an der Nase an, welchen Beruf er hat.  Gemeinsam gingen wir zum Büro der Inneren Mission in der Georgstraße /Ecke Birkenstraße.  Dort wurde ich dem Stadtmissionar, Bruder Philipp Schmidt und Frau Cordes, der Sekretärin, vorgestellt.  Es gab im Büro ein Stehpult, einen Tisch mit Schreibmaschine, Stuhl und einen Schrank.  Wenn Besucher kamen, blieb nicht viel Platz.  Als Ausweichmöglichkeit dienten der Auswanderersaal und oft auch die Kapelle, in der Auswanderer-Gottesdienste und Verabschiedung der Auswanderer stattfanden.  Ein schmaler finsterer Gang führte zu den Räumen.  Nach erfolgter Vorstellung machte ich noch einige kurze Besuche bei einigen Brüdern des Rauhen Hauses.  Mit dem Bescheid, ich würde wieder von der Inneren Mission hören, verließ ich voller Hoffnung Bremen.  Es dauerte auch nicht lange, da berief mich die Innere Mission zum 1. November 1919 zum Dienst in Bremen.

Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, so auch mir.  Ich fiel auf die Knie, wie schon damals, als ich den Ruf ins Rauhe Haus bekam, und bekannte mit Samuels Worten: „Herr, ich bin nicht wert all der Gnade und Barmherzigkeit, die Du an Deinem Knecht getan hast.“  Nun ging es an das Packen der armseligen Habe.  Ich hatte nur einen kleinen Schließkorb, den mir meine lieben Eltern beim Eintritt in das Rauhe Haus mitgegeben hatten.  Es war ja Krieg gewesen, und Geld hatte ich nicht.  Es reichte gerade für die Anreise.  Da es durch den verlorenen Krieg nichts zu kaufen gab, fehlte es mir auch an der nötigen Kleidung.  So zog ich nach der in der Abendandacht erfolgten Aussegnung mit dem genannten Spruch am anderen Morgen los.  Meine Bücher und Sonstiges kamen per Frachtgut nach Bremen.

Die Innere Mission, die früher ausschließlich von den freiwilligen Beiträgen und Gaben der Kaufmannschaft getragen wurde, hatte kein Geld mehr, da diese Bremer Kaufmannschaft durch den Krieg arm geworden war.  Eine bremische Kirche gab es nicht, wohl aber Personalgemeinden.  Jedes Gemeindemitglied wurde zu einem monatlichen Beitrag verpflichtet.  Die Konfirmanden brachten vor der Einsegnung ihren Obolus, mindestens 3 RM in einem Umschlag mit.  Für Trauungen und Beerdigungen wurden Gebühren gezahlt.  Ich nahm dann später selber manchen Umschlag mit erheblichen Beiträgen entgegen.  Nach der Geldumstellung 1923 sagte mir Pastor Boche: „Heute bin ich erstmals ohne Geld gewesen.“  Als ich später einmal eine Predigtvertretung brauchte, wurde ich nach der Verhandlung vom Pastor gefragt: „Was kriege ich dafür?“  Ich kannte die Verhältnisse noch nicht und war nicht darauf vorbereitet.  Als 1922 ein Schlossermeister seine Trauung mit 200 RM bezahlen wollte, reichte das nicht, der Pastor an Stephani verlangte wegen der Inflation 500 RM.  

Die Hohentorsgemeinde brauchte Hilfe in der Jugend- und Gemeindearbeit.  Am 1. November 1919 wurde ich daher der Hohentorsgemeinde zugeteilt.   Der dort tätige Bruder Klaje war der Jugendarbeit nicht gewachsen.  Als ich mich bei Pastor Boche in der Hohentorsheerstraße 15 meldete, war er überrascht.  „Ja, wo wollen Sie denn wohnen, ich habe keine Wohnung für Sie!?“  Da saß bei ihm im Büro die liebe Lisa Carstens, eine treue Seele, die Pastor Boche sehr viel half.  Die schickte er los.  Sie kam zurück und brachte Nachricht, ich könne für drei Tage bei Frau Muhle, Hohentorsheerstraße 28, wohnen.  Frau Muhle handelte mit Klavieren und anderen Instrumenten.  Ich bezog nun ein Zimmer, besser gesagt, einen Salon; die Möbel stammten aus dem großherzoglichen Schloss in Oldenburg.  Ich kam mir vor, wie Hans im Glück.  Aus den einfachsten Verhältnissen im Rauhen Haus in solch ein Zimmer!  Ein Chaiselongue war meine Liege.  Das Haus war ehemals das „Johann-Heinrich-Stift“.  Bruder Palm hatte hier gewirkt, wohl auch Bruder Philipp Schmidt und Baron von Uxküll mit seiner lieben Frau.  Alle drei hatten als Stadtmissionare hier ihre Gemeinde versammelt und Gottes Wort verkündet, bis die Gemeinde der Führung von Pastor Ernst Boche anvertraut wurde.  Pastor Boche war als Missionar, von Bethel ausgesandt, drei Jahre in Afrika gewesen.  Er selbst war gelernter Kaufmann.  Als Erzieher hatte er in Delmenhorst bei Lahusen in der Norddeutschen Wollkämmerei gewirkt.  Herr Lahusen hätte ihn gern in seinem Geschäft haben wollen, aber Pastor Boche blieb bei seinem geistlichen Beruf.

Nachdem ich drei Tage bei Frau Muhle im ehemaligen Johann-Heinrich-Stift gewohnt hatte, zog ich in die Pappelstraße 171 zu Frau Engelhardt um.  Ich schlief unter dem Dach.  Tagsüber konnte ich in der Stube arbeiten, da die Vermieterin und ihre Tochter dann außer Haus waren.  Es war noch eine ärmliche Zeit.  Lebensmittel gab es noch auf Marken.  Frau Engelhardt hatte Beziehungen zum Lande.  Abends gab es dann Bratkartoffeln und Knipp.  Dafür bin ich der Frau heute noch dankbar.

Nach einem Vierteljahr zog ich zu Frau Carstens, Hohentorsheerstraße 125.  Die liebe alte Frau Carstens und ihre Tochter Lissy lebten in mehr als bescheidenen Verhältnissen, obwohl sie aus adeligem Hause stammten.  Der Ehemann, Ziegeleibesitzer, der sein Vermögen offenbar durch Bankrott verloren hatte, war verstorben.  Frau Carstens wusste aus Wurstbrühe und kleinen Gaben vom Schlachter Bartels sehr schmackhafte Mahlzeiten zu bereiten.  Einmal, als ich abends beim Ausarbeiten der Bibelstunde war, ging plötzlich um 22 Uhr das Gaslicht aus.  Nun wusste ich nicht, mit welcher Kette ich die Gaszufuhr absperren musste.  Am andern Morgen um 5 Uhr wurde das Gas wieder angelassen.  Um 5.45 Uhr erwachte ich vom Rauschen des Gases.  Schnur ziehen und Fenster auf, war eins!  Bei Frau Carstens habe ich mich sehr wohl gefühlt.  Sie versorgte mich wie eine Mutter ihren Sohn.  Ich wohnte bis zu meiner Verheiratung am 24. Juli 1920 dort.  Dank sei dieser selbstlosen Frau.

Am 2. November 1919 ging ich mit Bruder Philipp Schmidt durch die Hohentorsgemeinde.  Sie erstreckte sich vom Gaswerk an der Oldenburger Straße bis an die Ochtum und zur Bachstraße – Rasingstraße, dann Zion, St. Pauli, ab Neustadtswall bis etwa Meyerstraße.  Nach etwa einer Stunde sagte Bruder Schmidt: „So, das ist dein Arbeitsfeld, nun sieh zu, wie du fertig wirst.“

Alles war Neuland.  Pfarrei hatten wir im Rauhen Haus gelernt, wohl auch Bibelstunden gehalten und Andachten im Beetsaal vor der Rauhen-Haus-Gemeinde.  Vier Jahre Krieg lagen hinter mir. 

Als ich auf der Kanzel stand und der Gemeinde vorgestellt wurde, sah ich schwarz, aber keine Gemeinde.  Was ich gesagt habe, weiß ich nicht mehr.

Pastor Boche stand morgens früh auf.  Von 7 bis 8 Uhr trieb er Exegese.  Jeden Tag nahm er sich 8 bis 10 Besuche in der Gemeinde vor.  Er leitete einen Männerverein mit ständig 15 bis 20 Besuchern.  Bei den Veranstaltungen standen immer Kisten mit Zigarren auf dem Tisch.  Man konnte sich gegen Bezahlung bedienen, und es wurde tüchtig geraucht.  Eine kurze Andacht mit Lied ging voraus.  Spiel, Vortrag oder Besprechung der Gemeindeangelegenheiten folgten.  Am Ende stand das Gebet.  Frau Pastor Boche leitete einen Nähkreis, zu dem etwa 20 bis 30 Frauen kamen.  Die Andachten dabei hielten Pastor Boche oder in Vertretung auch ich.  Zu den Bibelstunden von Pastor Boche kamen auch ca. 20 bis 25 Teilnehmer.  Er verstand es, tief in die Bibel einzuführen.  Die Liedbegleitung übernahm ich dabei.  Gemeindeabende mit Tee und Kuchen wurden von 200 bis 300 Teilnehmern besucht.  Eintritt war frei, von der Kollekte wurden die Kosten gedeckt.  Boche interessierte die Gemeinde und stellte sie vor Aufgaben und brachte sie zur Mitarbeit.

Am Sonntag stellte mich Pastor Boche dem Jünglingsverein vor.  Es mögen 30 bis 40 Jünglinge gewesen sein.  Sie kamen aus allen Berufen.  60 eingeschriebene Mitglieder hatte der Jünglingsverein.  Es ging vereinsmäßig zu.  Jedes Glied hatte einen Beitrag von monatlich 25 Pfennigen zu zahlen, später 50 Pfennig.  Von den Beiträgen wurden Saalmiete, Licht und Feuerung bezahlt.  Jeden Sonntag wurden abends ab 19 Uhr bis 22 /22.30 Uhr Spiel- und Singabende, Vorträge, Diskussionen, Theatervorführungen geboten.  Bibelstunden waren eingerichtet.  Es war oft ein sehr schöner Kreis, der zur Gebetsgemeinschaft führte.  Aus diesem Kreis sind Pastoren, Diakone und Missionare hervorgegangen.  Unser Raum hatte Tische und Holzbänke.  Manchmal gab es bunte Tischtücher.  Zu der Zeit war alles recht einfach bis primitiv.  Es war nicht immer leicht, unter den 14- bis 18jährigen Burschen Ordnung zu halten, es gab auch Schalke und Rüpel unter ihnen.  So konnte es schon mal vorkommen, dass im Keller, in dem sich die Toiletten und Kleiderablagen befanden, die Wasserhähne aufgedreht und die Asche verschüttet waren.

Aller Anfang ist schwer.  Was sollte ich tun in einer blühenden Gemeinde, wo alles geordnet ist?  Langsam aber sicher kam die Arbeit auf mich zu.  Montags früh war um 8 Uhr Besprechung bei Pastor Boche.  Schwester Gesine und ich waren stets pünktlich zur Stelle.  Wenn etwas nicht klappte, gab es bei Schwester Gesine auch mal Tränen.  Pastor Boche war hart gegen sich selbst und verlangte auch vollen Einsatz von seinen Mitarbeitern.  Meine Aufgaben waren Jugendarbeit, Besuche in der Gemeinde, besonders bei Armen und Alten, Mithilfe im Kirchenchor, Religionsunterricht, Kindergottesdienst, Männerkreis und Bibelstunde.

Pfadfindergruppen wurden gebildet und ein Posaunenchor gegründet, der die Gemeindeabende verschönte und mit polizeilicher Genehmigung vom nahen Turm der Feuerwache sonntags früh um 9 Uhr Choräle ertönen ließ.  Die Gemeindeglieder öffneten dann ihre Fenster.  Die Musik war bis zum Stephaniviertel und Woltmershausen zu hören.  Alle Instrumente musste ich selbst beschaffen. 

Wir unternahmen im Geist der Wandervogelbewegung Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung, zum Hasbruch zu der 1000jährigen Eiche, nach Worpswede und Osterholz-Scharmbeck, zu Fuß über die Eisenbahnbrücke über die Wümme.  An den Ausflügen beteiligten sich 200 bis 300 Gemeindemitglieder mit Kindern.  Unterwegs machten wir Rasenspiele miteinander.  Ich machte Besuche in der Gemeinde, bei den Eltern der Jugendlichen und der Kinder des Kindergottesdienstes und hatte Kontakt zu arm und reich, jung und alt.  An meinem 38. Geburtstag waren 38 Gemeindeglieder unsere Gäste.  Auch Schwester Gesine Lewerenz schob mir noch oft Arbeit zu.

Die Gemeindebeiträge mussten durch freiwillige Helfer erhoben werden.  Mancher verlor die Lust.  So musste ich mehr, als ich oft verkraften konnte, einspringen.  Bruder Schmidt hatte mir zu verstehen gegeben: „Wenn du Geld für deine Arbeit brauchst, musst du es dir selbst erbitten."  Das war neu und schwer für mich.  Es lief mir heiß und kalt durch den Körper, wenn ich in den Büros mein Buch zur Zeichnung von Gaben vorlegte.  Hatte ich einen Gönner, der einen guten Kopfbeitrag zeichnete, dann ging es besser.  Ich war ja nicht der einzige Bittsteller, jeder Pastor, jede Gemeindeschwester, jeder Stadtmissionar erbat Gaben für seine Arbeit.  Dabei lernte ich Bremen kennen, von Grolland bis Gröpelingen, Stadtmitte bis Inselstraße und Hastedt.  Die Beiträge waren oft klein, 50 Pfennige bis 1 RM wurden in mühselig harter Arbeit zusammengetragen.  Einmal wurde ich Am Deich hinausgewiesen.  Ich war hartnäckig und erschien am nächsten Tag wieder und sagte zum Inhaber des Geschäfts: „Dort im Geldschrank ist das Geld.“  Darauf gab er nach und spendete einen Betrag.  Als das Geschäft später pleite ging und ich den Herrn wiedertraf, haben wir über dieses Spiel oft gelacht.  Ein Fahrrad bekam ich nicht, nicht einmal eine Reparatur wurde vergütet.  Auch die Gelder für den Posaunenchor und den Bilderapparat musste ich durch Spenden einbringen.  Die Gemeinde trug die Hälfte meines Gehaltes, also 200 RM im Monat.  So war die Stadtmission auf Gaben aus der Gemeinde, von der Bremer Kaufmannschaft, von Fabrikbesitzern und sonstigen Leuten angewiesen.

Bei der Inneren Mission in Bremen arbeiteten bis 1930 fast nur Brüder des Rauhen Hauses.  Der Inneren Mission war ich an drei Tagen in der Woche verpflichtet.  Dort war nicht allzu viel zu tun, da ja alles noch im Aufbau war und es an Geld mangelte, zumal die Geldentwertung derartig schnell fortschritt und alles jeden Tag teurer wurde.  Die Inflation nahm in den Jahren bis 1923 erschreckende Formen an.  Das Geld verlor von Tag zu Tag an Wert.  Niemand hatte je so etwas erlebt.  Jeder Rat, der gegeben wurde, war am nächsten Tag überholt.  Wer 1923 sein Haus verkaufte, sah sich anschließend mit den wertlosen Papierscheinen vor dem Nichts.  Bruder Schmidt und ich waren besorgt, unsere Stellungen zu halten.  Es war mir oft ein Rätsel, wo der Rechnungsführer, Herr Johann Heinrich Kuhlenkampff monatlich das Geld für die Aufgaben der Inneren Mission hernahm.  Die Innere Mission hatte offenbar immer noch Geld, um ihre Mitarbeiter zu bezahlen.  Die ertragreichen Heime, Hospiz und Herberge, mussten abliefern.  Das Gehalt wurde zur Sparkasse überwiesen.  Es dauerte oft 8 Tage, ehe es verfügbar war.  Dann langte es nur noch für den allernotwendigsten Lebensbedarf.  Man griff zur Selbsthilfe: Haarschneiden, Schuhbesohlen und dergleichen wurden gelernt.  Es ging recht und oft schlecht.  Als ich eine Haarschneidermaschine für 2 Millionen RM kaufen wollte, lief ich nur um die Ecke, Geld zu holen.  Inzwischen war der Preis auf 2 ½ Millionen gestiegen.  Die bremische Kaufmannschaft hatte den Bremer Dollar als zahlungskräftiges Geld geschaffen.  Der Rechnungsführer, Herr Joh. Heinrich Kuhlenkampff, sah unsere Not mit der leeren Kasse.  Er sagte: „Ich kann doch die Leute nicht verhungern lassen“, griff in die Tasche und zahlte uns die Hälfte unseres Gehaltes in Dollarnoten aus.  Das war königlicher Kaufmannsgeist einhergehend mit stillem, echtem Christentum.

Bruder Schmidt gab mir am Jahresanfang 3 RM: „Das ist aus der Armenkasse für deine Armen.“  Das war wenig für ein Jahr.  So wurden Kleider und Lebensmittel erbeten und verteilt.  Im Oktober 1921 ging ich aufs Land nach Groß Mackenstedt und erbat Lebensmittel.  Der Gemeindepastor, den ich fragte, ob ich in seiner Gemeinde sammeln dürfe, sagte: „Ja, aber Sie bekommen nichts.“  Er bekäme auch nichts.  Als ich ihm am Nachmittag als Ergebnis 55 Zentner Kartoffeln, Wurzeln und Gemüse meldete, war seine Verwunderung sehr groß.  Ich lieh mir vom Milchhändler Stührmann Pferd und Wagen.  Hermann Thies (später Diakon an St.Pauli) und ich trugen aus den zerstreut liegenden Gehöften alles zusammen und kamen spät abends im Gemeindehaus an.

Es bildeten sich Vertrauensverhältnisse zwischen reichen Gönnern und den Gemeindeschwestern und Stadtmissionaren heraus.  Die Schwestern wurden oft von den Reichen der Gemeinde zu Essen eingeladen.  Es kam dann auch vor, dass ein 100-RM-Schein unter dem Teller lag, als Zuschuss für den Urlaub.

Die Hohentorsgemeinde war eine Tochtergemeinde von St. Pauli.  Dazu gehörte auch die Zionsgemeinde, wo Bruder Felix Hofmann als Stadtmissionar wirkte.  Die Jakobigemeinde war eine selbständige Gründung der Inneren Mission, Kirche und Gemeindehaus von ihr erbaut.  Pastor Lange, unverheiratet, hat hier in Segen gewirkt.  Bruder Keller war dort von 1912 bis 1923 Gemeindehelfer und Stadtmissionar, angestellt von der Inneren Mission.  Da die Innere Mission nach dem Kriege ohne Mittel war, musste Bruder Keller mit Frau und vier Kindern anderweitig untergebracht werden.  Das ihm bis dahin zur Verfügung gestellte Haus wurde verkauft.  Er übernahm dann ein Pflegeheim in Arolsen.

Bei der Aufnahme meines Dienstes in Bremen lebten bzw. wirkten in Bremen außer den oben erwähnten Stadtmissionaren Felix Hofmann und Robert Keller folgende Brüder des Rauhen Hauses: Gustav Palm als Vorsteher des Altenheimes Eggestorfstiftung, Philipp Schmidt, Stadtmissionar in der Süderstraße 30a, Ralf Kreit und Bruder Klaje in der Herberge zur Heimat, Bruder Fangmeier im Seemannsheim am Korffsdeich, Bruder Speckin als Fürsorger, Richard Hammer als Gemeindehelfer in Unser Lieben Frauen, Bruder Fischer, Bruder Krone und Conrad Drojewsky im Ruhestand, sowie Brüderwitwe Winter.

Am 24. Juli 1920 heiratete ich Magdalena Martha Maria Götzky in Bieber bei Offenbach, wo ihr Vater, auch ein Bruder des Rauhen Hauses, Lehrer war.  Als Hochzeitsgeschenk der Stadt Bremen bekamen wir Gutscheine für 3 Pfund Haferflocken und etwas Mehl, doppelte Portionen für einen Monat. 

Nach dem verlorenen Krieg war die Zuteilung sehr knapp.  Die Amerikaner schickten Lebensmittel, Hilfe in der Not.  Es gab fetten Speck, der aber bis in die Mitte gelb und ranzig war.  Über Nacht wurde er in Wasser gelegt, ein Stück Holzkohle aufs Wasser, das den ranzigen Geschmack etwas abzog.  Harte Busch-Pferdebohnen musste ich umtauschen.  Kaufmann Schröder sagte: „Die können Sie nicht essen.“  So gab er mir Erbsen dafür.  Ein Stück Land hatte ich auf dem Stadtwerder am Linaweg urbar gemacht.  So konnte ich am Tag nach der Heimkehr gleich Bohnen pflücken.  Wir hungerten uns schlecht und recht durch.  Zu Weihnachten gab es einen Stollen von einem Pfund Mehl.  Er wurde erst am Weihnachtsmorgen angeschnitten. 

Wir bezogen unser erstes Domizil bei Schneidermeister Oelfke, Neustadtswall 52, und hatten dort Stube, Frühstücksmittelzimmer, Schlafstube und eine ganz finstere Küche.  Ein kleiner Kanonenofen sorgte im Winter für Wärme.  Als wir von der Hochzeit kamen, hatten die Gemeindeglieder geheizt.  Eine Glasschale mit roten Rosen von Schwester Gesine und kleine Geschenke erfreuten uns.  Der Fußboden war morsch.  Auf die Löcher nagelte ich Kistenbretter.  Dennoch haben wir uns dort sehr wohl gefühlt.  Oelfke war Mitglied des Vereinshauses Schmidt in der Süderstraße.  Herr und Frau Oelfke waren wie Vater und Mutter zu uns, so dass alle Unbill überbrückt wurde.  Als meine Frau im Diakonissenhaus lag, musste ich mir mein Mittagessen wegen der Gassperrstunden auf einem offenen Feuer auf dem Hof bereiten.  Von meinen 200 RM monatlich konnte ich mir anderen Luxus nicht leisten.  Meine in kaufmännischen Berufen tätigen Vereinsmitglieder verfügten über ein monatliches Gehalt von 500 RM.  Von den 200 RM ließ sich nichts erübrigen.  Als uns Gott am 22. April 1921 Zwillinge schenkte, Otto und Martin, gab uns Frau Achelis, Schulvorsteherin an der Mainstraße, für vier Wochen ihren Wäschekorb, damit wir darin ein Kind betten konnten.  Nach vier Wochen brauchte sie den Korb wieder selber.  Wir kamen in Not.  Ein gebrauchter Kinderwagen wurde erstanden, der nach einjährigem Gebrauch zusammenbrach.  Ich kaufte für 50 Pfennige beim Altwarenhändler Krauss in der Brautstraße einen fahrbaren Untersatz.  Mit einem Anstrich versehen, den Korb aufgeschraubt, sind alle 7 Kinder (2 verstorben, 2 Söhne, 3 Töchter überlebten) darin gefahren.  1923 wurde unser Hermann geboren.  Alle uns geborenen Kinder waren „herzlich willkommen“.  1925 machte ich mit Frau und Kindern einen Konfirmandenbesuch.  Es war kalter Ostwind.  Am Montag früh klagte Otto über Schmerzen.  Ich holte den Arzt.  Dr. Mindermann stellte Angina fest.  Hinzu kamen Masern.  Martin und Hermann wurden auch krank, Masern und Röteln.  Ich durfte nicht zur Arbeit.  Die Krankheit verschlimmerte sich.  Die Kinder kamen ins Krankenhaus.  Dort starb am 4. April 1925 Otto und am 6. April Hermann.  Man brachte uns ein totes Kind ins Haus, ein fremdes.  Die Leiche wurde wieder abgeholt.  Am 8. April trugen wir die Kinder zum Buntentorsfriedhof.  Die Karwoche war für uns eine Glaubensprüfung.  Von Freunden erhielten wir viel Trost und Hilfe.  Baron v. Uxküll sagte uns: „Die Kleinen schauen nun auf Euch herab und bitten Gott für Euch!“  Martin konnte nicht verstehen, dass seine Brüder nicht nach Hause kamen.  Meine Frau musste mit Martin wegen Nasen- und Ohrenschmerzen zum Ohrenarzt.  Die Ursache wurde nicht rechtzeitig erkannt.  Nach ½ Jahr eiterten die Ohren.  Der Eiter fraß die Haut kaputt.   1926 wurde Elisabeth am 17. Februar geboren.  Sie wurde uns später im Alter eine treue Stütze.  Recht und schlecht haben wir uns durchgeschlagen.  Meine liebe Frau stopfte, strickte und flickte tüchtig, so kamen wir durchs Leben.

1924 schlossen sich alle bremischen Kirchengemeinden, die orthodoxen und liberalen, konstitutionell zur Bremischen Evangelischen Kirche mit einer freidemokratischen Verfassung zusammen.  Im Gegensatz zu anderen deutschen evangelischen Kirchen hatten die Bremer weder einen Präses noch einen Bischof, sondern der leitende Theologe nannte sich Schriftführer.  Bei den Bischofskonferenzen war dieser immer schlecht einzuordnen.  Nach Verlust der Kolonien kehrten die Missionare nach Deutschland zurück.  In Afrika hatten sie getauft.  Als Missionar Spieß anlässlich seiner Vertretung am Dom Kinder taufte, sprachen ihm die Pastoren das Recht zum Taufen ab.  Es gab Streit.  Vier Kinder sollten noch einmal getauft werden.

Ich war erstaunt, wie gut die Sozialdemokraten über Wichern und sein Werk Bescheid wussten.  Bis 1920 gab es praktisch nur die kirchliche Armenfürsorge.  Um 1921 übernahm der sozialistische Staat die kirchliche Wohlfahrtsarbeit.  Wer diese in Anspruch nahm, verlor damit das Wahlrecht.   Das Büro war im Polizeipräsidium.  Obwohl man Wicherns Gedankengut kannte, konnte man die Arbeit nicht allein zwingen.  Zusammen mit der Inneren Mission, der katholischen Caritas und weiteren Wohlfahrtsverbänden baute die Sozialdemokratie eine Wohlfahrtsbehörde auf.  Das Jugendwohlfahrtsgesetz wurde 1922 verabschiedet, die Fürsorgepflichtverordnung 1924 erlassen.  Meine Arbeit blieb davon unbehelligt, da ich nur ein „geringer Kostgänger“ war.  So konnte die Arbeit am Hohentor fortgehen, weiterhin wurden Arme bedacht.  Zusammen mit Professor Sanders und Professor Peters vom Technikum, die in unserem Kirchenvorstand waren, habe ich am Neustadtbahnhof Kartoffeln für die Armen ausgeladen.  Professor Preuß von der Seefahrtschule brachte uns eine Tasche amerikanischer Spenden, die wir beschämt annahmen.  Die Bremer Stadtmissionare hatten ihre wöchentlichen Konferenzen.  Einer fühlte sich für den anderen verantwortlich.  Die Jahresfeste der Inneren Mission waren gut besucht.  Der größte Saal Bremens war oft überfüllt.  Am Schluss warb Pastor Frick für die Kollekte, er konnte das besonders gut.  Bruder Schmidt und ich zählten das Geld, es waren oft über 1.000 RM.  Abends war dann in einem Haus der jeweiligen Vorstandsherren eine Zusammenkunft mit oft über 50 Personen.  Frau Isenberg, Johann Heinrich Kulenkampff und J. K. Vietor sind mir in guter Erinnerung.  Es gab kaltes Buffet und ein Glas Wein.  Mehrere kurze Vorträge oder Rückblicke auf den Tag füllten den Abend.  Ich war jung und zurückhaltend und so schob mir Bruder Hofmann oft ein belegte Brot zu.  Mir schmeckte es köstlich.  Am Sielwall bei J. K. Vietor war es, als wir zur Heimkehr rüsteten.  Ich wollte meinen Hut fassen, als mir dieser so fettig vorkam, und ich fragte: „Wem gehört dieser Speckdeckel?“  Da stand J. K. Vietor neben mir und sagte: „Das ist meiner.“  Als wir die Hüte wechselten, bemerkte er: „Ja, so einen neuen Hut kann ich mir nicht leisten.  Das können nur die Stadtmissionare.“  Obwohl ich sehr knapp bei Kasse war, hatte ich mir doch einen kaufen müssen.  J. K. Vietor hatte durch den Weltkrieg 13 Millionen Mark Barvermögen in Afrika verloren, was er mir sagte, als ich ihn zu Weihnachten um eine Gabe bat.  Mit seinen Leute war der Patriarch Vietor auf Du und Du.  Es herrschte Vertrauen gegen Vertrauen.  Als sein großes Geschäft dem Bankrott entgegenging, sagte sein Prokurist Emil Meyer zu mir: „Obwohl ich das Ende sehe, kann ich mein Geld doch jetzt nicht aus dem Geschäft ziehen.  Das darf ich dem Alten doch einfach nicht antun!“

Die Finanzen der Inneren Mission standen nicht gut.  So wurde mir nahegelegt, ich solle mich um eine andere Stelle bemühen.  Im Januar 1927 wurde ich ganz energisch auf Änderung der Stellung gedrängt.  Es ergab sich, dass die Stadt Bremen eine Stelle ausschrieb.  Das Jugendamt Bremen suchte als Vorsteher eines Heimes für obdachlose Jugendliche eine geeignete Person.  Das Haus wurde neu eingerichtet, damit die Jugendlichen von den erwachsenen Obdachlosen getrennt werden konnten.  Mit meiner Bewerbung reichte ich ein 12 Punkte umfassendes Arbeitskonzept ein, das sich mit den Vorstellungen der Leute vom Jugendamt deckte.  Unter 125 Bewerbern wurde ich einstimmig ausgewählt.  Ein Stellenwechsel ist immer eine unliebsame Sache.  Das mussten wir nun auch erfahren.  Es blieb uns nichts erspart.  Es folgten vier unangenehme Wochen.  Die Handwerker waren noch im Haus.  Das Jugendamt drängte auf Eröffnung.  Am 1.4.1927 zogen wir in das Heim in der Lindenstraße 6 in der Nähe des Bahnhofs ein.  Wir hatten auch für Verpflegung und Reinigung zu sorgen.  Es gab auch viel schriftliche Arbeit.  Jeder einziehende Jugendliche wurde auf Ungeziefer untersucht, entlaust, gebadet und mit Schlafanzug versehen.  Ich hielt auf gute Hausordnung.  Es wurde zeitweise sehr unruhig, da die Polizei und die Bahnhofsmission alle obdachlosen Jugendlichen an uns verwiesen.  Die Verpflegung war sehr gut.  Pro Person und Tag waren 1,50 RM dafür angesetzt.  Wir arbeiteten billiger als das Obdachlosenheim, da wir wenig Personal hatten: eine Hilfe für meine Frau, Anna Winter, die uns fünf Jahre lang eine treue Hilfe war, und der ehemalige Lehrer Hering, der uns zur Seite Stand.  Die Jugendlichen durften mehrere Tage im Heim bleiben.  Ausreißer oder Kriminelle wurden nachts abgeholt, die Eltern per Funk benachrichtigt.  Ich konnte manchen Jugendlichen in Arbeit vermitteln, obwohl es in Deutschland damals 7 Millionen Arbeitslose gab.  Es war eine sehr schöne sorglose Zeit in all der uns umgebenden Not.  Täglich konnte ich eine Stunde per Rad im Bürgerpark Luft holen.  Es war die Zeit höchster politischer Spannungen.  Bis Hitler 1933 an die Macht kam, bekriegten sich Kommunisten, Reichsbanner, Stahlhelm und Nationalsozialisten gegenseitig.  Es gab ständig Krawalle in der Stadt.  Vom Polizeihaus bis zum Brill bestand eine Bannmeile.  Wenn diese Bannmeile durchbrochen wurde, ging die berittene grüne Polizei vor.  In den politischen Umzügen wurden Staat und Kirche verulkt und herabgewürdigt.  Zuletzt war man sich seines Lebens nicht mehr sicher, weil man leicht in eine Keilerei auf der Straße hineingeraten konnte.  Die Schutzleute hatten einen schweren Stand.  Wir haben jeden Jugendlichen – gleich welcher politischen Richtung er angehörte – aufgenommen.  Hermann kam aus Berlin, er war Kommunist und am Arm angeschossen.  Ich musste ihn zehnmal rauswerfen, doch er kam immer wieder.  Manchen, der kein zu Hause mehr hatte, konnte ich im Heim als Kalfaktor beschäftigen.  Es gab aber auch böse Buben, die unsere Kinder stark gefährdeten. Auf unsere Kinder wurden Steine geworfen.  Doch Gott hat uns gnädig behütet.

Während dieser Jahre in der Lindenstraße wurde am 29. August 1928 Christoph (wurde auch Rauhhäusler Diakon) und am 11. Juni 1931 unsere Tochter Emma geboren.

Es war bei dem Chaos jener Tage nicht verwunderlich, dass die Zuneigung zur NSDAP wuchs, denn sie versprach und hielt eisern Ordnung.  So kam es, wie es kommen musste.  Die Nationalsozialisten siegten 1933.  Unser Oberregierungsrat Pantow musste weichen, er war Freimaurer, die die Nationalsozialisten ausrotten wollten.  Unter seiner Führung hatten wir jährlich einen oder zwei sehr schöne Betriebsausflüge unternommen.  Als ich ihn bedauerte, sagte er: „Heute bin ich’s, morgen sind Sie es.“  Durch die Sofortmaßnahmen zur Behebung der Arbeitslosigkeit ging auch das Wanderwesen zurück.  Unser Haus sollte Heim der Hitlerjugend werden.  Im Obdachlosenheim in der Hoffmannstraße sollte eine Abteilung für Jugendliche eingerichtet werden.  So mussten wir umziehen.  Das Haus gehörte dem Staat.  Die Abteilung für jugendliche Wanderer unterstand ab sofort der Wohlfahrtsbehörde.  Ich tat meinen Dienst in der Hoffmannstraße bis etwa 1935.  Dann war die Arbeitslosigkeit vorbei.  Alle Wanderer waren in den Arbeitsprozess eingegliedert.  Ich verlor meine Stellung.  Man bot mir beim Jugendamt eine Stelle als Kassenbote an, die ich sofort annahm, da es im kirchlichen Sektor keine Möglichkeiten für mich gab. 

Die Kirche war in zwei Fraktionen zerbrochen, hier die Deutschen Christen, dort die Bekennende Kirche.  Der letzte Kirchentag bot ein trauriges Bild.  Die Sitzung war fast zu einer Keilerei ausgeartet.  Nach sehr stürmischer Sitzung wurde er aufgelöst.  Nun begann auch in Bremen der offene Kirchenkampf.  Leider ließ ich mich auch herbei, für die Deutschen Christen zu optieren.  Versammlungen habe ich nicht besucht.  Die Innere Mission war ausgeschaltet, da die NSV alle Wohlfahrtsarbeit übernahm.

Als Kassenbote des Jugendamtes hatte ich die Aufgabe, die angefallene Alimente der Väter für eheliche und uneheliche Kinder einzutreiben.  Ich kam dadurch in viele Büros in der Stadt und im Hafen.  Eine Jahreskarte für die Straßenbahn erleichterte meine Arbeit sehr.  Im Büro hatte ich die Post des Jugendamtes und die Markenabrechnung zu erledigen.  Die Arbeit, teils in der Kasse, teils an der frischen Luft, empfand ich als recht angenehm.  Mein Inspektor, Berni Foßhardt, hatte eine hohe Meinung von meiner Arbeit.  Seine Devise war: „Erst kommt das Publikum, dann unsere Arbeit.“  Foßhardt war stets fleißig und verlangte das auch von seinen etwa 10 Mitarbeitern.  Nach knapp zwei Jahren wurde ich Kontenführer und war für die Kontenabrechnung und Auszahlung der Pflegegelder zuständig.  Uns stand eine große Buchungsmaschine zur Verfügung.  Die Kameradschaft unter den Kollegen war sehr gut.  Unser Oberregierungsrat war ein humaner Vorgesetzter.  Oberinspektor Fritz Rust, ein strenger, gefürchteter Mann, hat mich stets zuvorkommend und anständig behandelt: „Für Sie bin ich Rust.“  Für die anderen Mitarbeiter war er „Herr Oberinspektor“.  Warum ich bevorzugt wurde, ist mir nie bewusst geworden.  Nach knapp fünf Jahren wurde ich Sachbearbeiter in der Gefährdetenfürsorge.   Ich bekam ein eigenes Büro und zwei Mitarbeiter.  Es wurde eine schöne Zeit, voller Verantwortung und Freiheit zur Selbstentscheidung.  Beschwerden über meine Arbeit gab es nicht.

Der schreckliche Krieg, der am 1. September 1939 über uns kam, löste zunächst ein Erschaudern in uns aus.  Früh um 6 Uhr kam die Nachricht durchs Radio: „Die Polen schießen auf uns, wir schießen zurück und haben die Grenze überschritten.“  Nach den großen herrlichen Siegesmärschen nahm dank des Größenwahnsinns Adolf Hitlers das Unheil seinen Lauf.  Die schrecklichen Luftangriffe begannen in Bremen schon 1940/41.  Die Flieger waren schnell über den Kanal und Bremen wurde zum Einfluggebiet.  Schaurig waren die „Christbäume“ anzusehen, Leuchtpyramiden, die das Zielgebiet für den Bombenabwurf markierten.  Dann kamen Feuer, Vernichtung, Sterben und Tod.  Das Jugendamt wurde von einer kleineren Bombe getroffen.  Es gab viele Glassplitter.  In dieser ersten Bombennacht wurde auch die Kinderstation des Evangelischen Diakonissenkrankenhauses getroffen.  Ich habe fast 1500 Alarme und über 170 schwere Angriffe registriert.  Schwere Flak und Fesselballons sollten die Stadt schützen.  1941/42 wurden in Tag- und Nachtarbeit Bunker mit 2 Meter-Beton-Boden und 1,20 m dicken Mauern und Spitzdach gebaut.  Auch sie boten keine letzte Sicherheit.  An allen Fronten sah es dank Hunger und Materialmangel böse aus.  Die Fronten brachen nicht nur im Feindesland zusammen, sondern kamen auch ins Heimatland.  Von Süden, Westen und Osten rückte der Feind näher.  In Bremen, das nicht kapitulieren wollte, fand dann noch einmal ein regelrechtes Bombardement statt.  Die schweren Bunker, die voller Menschen waren, schaukelten.  Alle Weserbrücken waren zerstört.  Der Feind rückte mit Panzern ein.  

Der Krieg mit all seinen Schrecken, seiner Sünde und Schuld war in Bremen am 26. April 1945 so gut wie zu Ende.  An der Elbe und in Mecklenburg trafen sich die Alliierten.  Die Türen des Bunkers in Sebaldsbrück öffneten sich am 8. Mai 1945 für uns.  Wir durften unseren Bunker verlassen und aus der Stickigkeit und Dunkelheit ans helle Licht treten und in unsere Wohnungen und Häuser gehen.  Es war Sonnenschein und überall eine große Ruhe.  Die Flieger waren nicht mehr in der Luft.  Deutschland war total ausgeblutet.  Bremen war zu 65% zerstört, ein furchtbarer Anblick.  Ich habe geweint.  Was vor uns lag, wusste keiner.  Mich überkam ein Gefühl des Dankes gegenüber Gott: Man konnte endlich wieder Mensch sein und hatte nicht ständig die unmittelbare Todesnot vor Augen.  Trotz aller Kriegsnot, die auch wir in der Heimat durchgemacht hatten, galt: „In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über uns Flügel gebreitet.“  - Etwa 20 Panzer standen in unserer Straße.  Die Besatzung war sehr human zu uns.  Allerdings durchsuchten die amerikanischen Soldaten die Häuser, auch nach Mädchen.  Unsere Elisabeth wollte einer Bekannten Blumen bringen.  Ich hatte es verboten und gewarnt.  Da brachten sie 6 bewaffnete Soldaten zurück: „Du mitkommen!“  Elisabeth rief mich.  Ich lag mit Angina im Bett.  So stand ich im Hemd vor den Soldaten, die auf dem Rücken die Aufschrift trugen: „Murder of Bremen“.  Als sie fragten, was mir fehlt, antwortete Elisabeth schlagfertig: „Diphtherie“.  Da zogen sie ab und sagten, sie kämen wieder.  Das Haus wurde durchsucht.  Verdächtiges hatten wir vorher weggeworfen. 

Das Leben ging nach Krieg und Sterben aber weiter.  Noch hatte fast jeder einige Vorräte an Essen.  Aber die Not machte sich bald überall bemerkbar.  Lebensmittelvorräte verdarben.  Heizmaterial war knapp.  Bäume, auch solche, die unter Natur- oder Denkmalschutz standen, wurden nachts gefällt.  So veränderte sich auch die Natur.  Langsam begann das Aufräumen und der Neuaufbau.  Vom amerikanischen Kommandeur wurde in Bremen eine neue sozialdemokratische Regierung eingesetzt.  Senator a. D. Wilhelm Kaisen wurde Regierender Bürgermeister und Dr. Spitta zweiter Bürgermeister, beides verdiente und besonnene Männer.  Der Wiederaufbau begann.  Alles regte sich langsam wieder.  Kaisen half selbst beim Steineklopfen.  Bei der Versorgung wurde das Besatzungsheer vorrangig bedient.  Da fast alle Brücken zerstört waren, konnte der Eisenbahnbetrieb nur schwer wieder in Gang gebracht werden.  Die Kohlenzüge wurden bei Tage und bei Nacht geplündert, Lebensmittel vom Land her gehamstert.  Alles Erdenkliche wurde gegen Lebensmittel, gegen Tabak und auch Streichhölzer eingetauscht.  Kleidung und Schuhe waren nach den Kriegsjahren verbraucht.  Der Schwarzmarkt blühte.  Um Salz zu beschaffen, fuhr man von Bremen bis Lüneburg.   Die Not wurde hart im Land.

Die nationalsozialistische Prominenz war, soweit sie sich nicht selbst gerichtet hatte oder ins Ausland entkommen war, gefangen gesetzt.   Abrechnung mit dem Nationalsozialismus kam.  Nach dem Tribunal in Nürnberg wurden die meisten Nazigrößen gehenkt.  Aber auch im Lande überall kam die Zeit der Abrechnung.  Mancher hatte Weib und Kind, Haus und Hof verloren.  Andere hatten in ihre fast unbeschädigten Häuser zurückkehren können.  Neid und Hass blieben nicht aus.  Der Mensch blieb menschlich.  Entnazifizierungsverfahren wurden eingeleitet und 1946 die große Entnazifizierung durchgeführt.  Ich hatte meinen Fragebogen getreulich und wahrheitsgemäß ausgefüllt.  Dafür wurde ich aus meiner Stellung entlassen und musste 200 RM Strafe zahlen.  Ich war 1933 SA-Mann geworden, weniger aus Überzeugung, sondern aus Angst, sonst arbeitslos zu werden.  Ich war damals als Sanitäter dabei und habe oft sehr gelitten, wenn ich am Sonntag die Kirchenglocken läuten hörte, aber nicht zur Kirche gehen konnte.  Einmal habe ich meinem SA-Sturm im Oytener Moor einen Gottesdienst gehalten.  Das Jugendamt hatte nach der Ausbombung mit seinen Amtsräumen im Humanistischen Gymnasium Unterkunft gefunden.   Ich wurde im Februar 1946 grippekrank und musste das Bett hüten.  Nach zwei Tagen kam ein Zuarbeiter und legte mir einen Brief aufs Bett.  Er enthielt die Mitteilung über meine Entlassung wegen NSDAP-Zugehörigkeit.  Ich war nur ein harmloser Parteigänger gewesen.  Auch nach dem Kriege konnte man im Staatsdienst nur weiterkommen, wenn man der SPD angehörte.  So wird auf Unrecht immer ein anderes Unrecht folgen.  Die Schwäche der Menschen war, ist und bleibt immer riesengroß.  So saß ich nun da, ohne Arbeit und Brot.  1946 wurde mein Haus beschlagnahmt.  Vielleicht hatten irgendwelche Nachbarn dafür gesorgt.  Nach Zahlung eines Bußgeldes wurde es mir später wieder zugeschrieben.  Nach der Beschlagnahmung des Hauses musste ich Miete zahlen.  Wohl konnte man eine bestimmte Summe vom Sparbuch abheben, aber das war nur eine vorübergehende Möglichkeit.  Es kam nun eine gewisse Notzeit über mich und meine Familie.  Das erstemal in meinem Leben musste ich mich beim Arbeitsamt melden und wurde zum Steineputzen eingeteilt.  Am Korffsdeich nahe am Hafen habe ich 14 Tage lang täglich, in Holzschuhen im Schneematsch stehend, mein Pensum geputzt: 200 bis 500 Stück.  Der Arbeitsamtsarzt schrieb mich für ¼ Jahr krank.  Ich bin dann nie wieder zum Arbeitsamt gegangen.  Mit Gelegenheitsarbeiten in Kirchengemeinden hielt ich mich über Wasser, pflanzte Hecken und verrichtete andere Gartenarbeiten.  

Am 24. Juli 1920 heiratete ich Magdalena Martha Maria Götzky in Bieber bei Offenbach, wo ihr Vater, auch ein Bruder des Rauhen Hauses, Lehrer war.  Als Hochzeitsgeschenk der Stadt Bremen bekamen wir Gutscheine für 3 Pfund Haferflocken und etwas Mehl, doppelte Portionen für einen Monat. 

Dank der Initiative der Fürsorgerin Helene Gräber hatte die Innere Mission ihr Haus am Dobben 112 erhalten.  Auch hier wurde geplant und aufgebaut.  Die Amerikaner sahen die Not und den Willen der Deutschen, Neues zu schaffen, und sie sahen, dass nicht alle Deutschen „Hunnen“ und Mörder waren.  So halfen sie der Inneren Mission beim Wiederaufbau ihrer Arbeit.  Zunächst wurden Unterkünfte für Obdachlose geschaffen.  Die Fürsorgerin Erika Pappe verhandelte mit der Besatzungsmacht, organisierte Betten und Zubehör.  Wollte die Besatzungsmacht eine Revolution vermeiden, mussten die ärgsten Nöte bewältigt werden.  Der große Bahnhofsbunker wurde als Unterkunft für alleinstehende Obdachlose hergerichtet.  Den Hunger zu stillen, Kleidung und Obdach zu beschaffen, war vorrangig.  Die Kirche rief zu Spenden auf.  Das Echo drang über die Grenzen hinweg.  Die Kirchen der Welt regten sich.  In anderen Ländern hatte man Mitleid mit den hungernden und frierenden Menschen in Deutschland.  Zur Verteilung dieser Gaben wurden auf Initiative des in Stuttgart wirkenden Präsidenten der Inneren Mission, Dr. Gerstenmeier, das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Cralog für die Logistik gegründet.  Ehemalige Offiziere und viele ehemalige Nazi-Mitläufer wurden in den Mitarbeiterstab des Hilfswerks übernommen.  Standesunterschiede waren dabei ganz ausgeschaltet.  Der ehemalige Oberst transportierte Mehlsäcke, Adlige, frühere Botschafter und höhere Staatsbeamte verteilten Kleider, Ex-Fabrikanten setzten ihr Wissen in der Verwaltung ein.  Nach meiner Entlassung aus dem Jugendamt setzte sich mein Rauhhäusler Bruder, Philipp Schmidt, für mich ein und sorgte dafür, dass auch ich eine Stelle beim Evangelischen Hilfswerk fand.  Pastor Heyne war mit dem Vorschlag, mich  zu übernehmen, einverstanden: „Mit Bretschneider wissen wir, wen wir haben.“  So ebnete mir Gott auch hier den Weg aus der Arbeitslosigkeit in Brot und Freude: „Weg hat er aller Wegen, an Mitteln fehlt’s ihm nicht.“ 

Fünf Jahre, vom 1. Oktober 1946 bis 1951 habe ich diese Arbeit beim Evangelischen Hilfswerk in Bremen getan.  Eine Monatskarte für die Straßenbahn erleichterte mir wieder meine Arbeit.  Ich hatte u.a. die Post zu öffnen und vorzulegen.  Als Manager des Hilfswerk waren die Herren Volkmann, Lüpke und Pastor Heyne tätig.  Ich darf nicht vergessen, die amerikanischen Vermittler, Prof. Burke und Frau zu nennen.  Sie luden Kleider und Lebensmittel in ihr Privatauto und fuhren sie dorthin, wo die Not war.  Es waren Quäker.  Diese Glaubensgemeinschaft hat damals sehr viel Gutes an uns getan.  Amerikanische Hilfsorganisationen schickten Care-Pakete nach Deutschland.  Sie enthielten hochwertige Lebensmittel, die bei uns sehr begehrt waren.  Zu den Festen bekam ich auch etwas davon ab.  Es war eine wundervolle Zusammenarbeit.  Die Gemeinschaft war sehr gut.  Wir haben mehrere Ausflüge in die nähere Umgebung gemacht, die stets ein Erlebnis waren.

Durch den Fleiß der Menschen waren in Bremen bis 1951 die ärgsten Nöte behoben.  Handel und Industrie boten wieder Arbeit.  Das Hilfswerk konnte seine Arbeit mehr und mehr reduzieren.  Da kam auch für mich das Ende meiner Tätigkeit beim Hilfswerk.  Pastor Heyne fragte mich, ob ich die Arbeit in der Evangelischen Auswanderermission übernehmen wolle.  So ganz recht war mir das nicht, da ich mich wohl zu sehr an die Freiheit in der Arbeit gewöhnt hatte.  Am 1. April 1951 begann ich dann mit der zunehmenden Auswanderung Deutscher nach Amerika, Kanada und Australien mit der Beratung.  Die Einwanderungsländer stellten harte Bedingungen.  In fünffacher Ausfertigung mussten zehnseitige umfangreiche Fragebögen ausgefüllt werden.  Es wurde hart gesiebt.  Vorstrafen, auch kleine Geldstrafen, machten eine Auswanderung unmöglich.  Meine Mitarbeiterin, Frau Lotte Reinecke, eine liebe, fröhliche, fromme und hilfsbereite Frau, war geschieden und hatte zwei erwachsene Kinder.  Wir konnten vielen Menschen helfen.  Die Auswanderer wurden von uns nach der Ankunft in Bremen begrüßt und bei der Abfahrt in Bremerhaven auf das Schiff begleitet.  Die Arbeit wurde so umfangreich, dass weitere Hilfskräfte eingestellt werden mussten.  Die Auswanderer-Gottesdienste, die sehr oft auch von mir gehalten wurden, fanden im Auswandererlager am Flugplatz, später in Lesum, statt.  Ich lud während des Abendessens dazu ein.  200 bis 300 Personen nahmen jeweils daran teil.  Auch in der Eheberatung war ich tätig, und in der Martinigemeinde arbeitete ich nebenbei  in Jugendgruppen mit, aber besonders im Kindergottesdienst und mit Hausbesuchen bei armen Familien.  In der Auswanderermission habe ich bis zum 68. Lebensjahr meinen Dienst verrichtet.  Dann sagte mir Gott: Halt!  Jetzt musst Du zu Hause Muttern helfen.  Die war an Multipler Sklerose erkrankt und konnte nicht mehr.  Der linke Arm war voll gelähmt.  Wir bekamen sie nicht mehr die Treppe ins Schlafzimmer hoch.  Sie musste fortan im Parterre im Wohnzimmer schlafen.  Sie behielt dabei aber immer ihren wachen Geist und ihr unerschütterliches Gottvertrauen.  Sie wurde manchem zum Vorbild und zum Licht in der Dunkelheit.  Am 1. Januar 1957 trat ich in den Ruhestand und wurde Krankenpfleger bei meiner Frau. 

Soweit sein eigener Lebensbericht, den er 1970 im Alter von 81 Jahren aufschrieb.  Am 21. Dezember 1966 wurde Otto Bretschneider für seine langjährige treue Mitarbeit in der Diakonie das Kronenkreuz in Gold verliehen.  Er verstarb am 24. Mai 1983 im Alter von 94 Jahren.


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