Wie sehe ich nachträglich meine Ausbildung zum Diakon im Rauhen Haus ? In einem Referat zum Thema „Kontinuität und Brüche in 25 Jahren Evangelischer Fachhochschule“ aus Anlass ihres 25jährigen Jubiläums (1971-1996) beurteilt Professor Wolfgang Braun die alte Ausbildung zum Diakon sehr kritisch:
„Die Fachhochschule steht in der Kontinuität der auf Wichern zurückgehenden Diakonenausbildung im Rauhen Haus. Seit 1839 erfahren die im Rauhen Haus tätigen Gehilfen in der Brüderanstalt eine Ausbildung zu Berufsarbeitern... Damit wurde es jungen Männern aus „einfachen Verhältnissen“ ermöglicht, einen anerkannten kirchlichen Beruf mit einer staatlichen Anerkennung zu erwerben, danach einen relativ sicheren Arbeitsplatz zu erhalten und gleichzeitig über die Teilhabe an der Institution Kirche, die ein hohes gesellschaftliches Prestige genoss, auch individuell „aufzusteigen“. Dies bedeutete andererseits aber die Unterordnung unter eine autoritäre, totale Institution, die über einige Jahre die Arbeitskraft gegen eine einfache Unterbringung, Verpflegung und ein sehr geringes Taschengeld intensiv „rund um die Uhr“ in ihren Tätigkeitsfeldern auspresste... die Diakonenschüler kamen wesentlich aus kleinbürgerlich-proletarischen Milieus. Neben der moralisch-religiösen Motivation war es ein nicht zu unterschätzender Gesichtspunkt bei der Entscheidung für die Diakonenausbildung im Rauhen Haus, dass man sich diese Ausbildung durch eigene Arbeit verdienen konnte und darüber zu einer Qualifizierung und auch zu einem beruflichen Aufstieg kam, der ohne das Rauhe Haus für viele nicht möglich gewesen wäre, da es für die Ausbildung ... keine Ausbildungsbeihilfe gab... Aufgrund ihrer Sozialisation waren die Diakonenschüler autoritär fixiert und dadurch gut in eine solche Einrichtung wie das Rauhe Haus einzupassen.“
Die späteren Umbrüche der 1968/70er Jahre, durch die das Rauhe Haus durch die „...mutigen, frechen, unverschämten Proteste und ihre befreienden Wirkungen...“ der 68er Studentenbewegung „...von einer rückständigen.. feudalen... vormodernen, patriachalischen... Struktur... zu einer modernen Organisation wurde“, stellt Wolfgang Braun als verdienstvolle Pioniertat dar. Er spricht von einer „Brüder-Ideologie des 19. Jahrhunderts, dem Einfluß der alten Brüder, die dem Faschismus ergeben waren“, ohne zu merken, daß auch er ideologisch argumentiert. Seine Darstellungen enthalten sicherlich richtige Einschätzungen, verkürzen aber auch stark durch Schwarz-weiß-Zeichnung und riechen für mich in etlichen Punkten nach der Überheblichkeit dessen, der in Unkenntnis der Details einer Zeit, die er nicht selber erlebt hat, zu schnell Urteile fällt und Stempel aufdrückt. Braun gibt als Literaturquelle u.a. Michael Häuslers Studie „Dienst an Kirche und Volk“ an, in der dieser sehr objektiv und gründlich über die Entwicklung und Emanzipation der Männlichen Diakonie von 1913 bis 1947 berichtet. Die bei Häusler recht differenziert dargestellten Vorgänge verkürzt Braun aus meiner Sicht zu holzschnittartig.
Im Rückblick besteht zwar immer die Gefahr der Romantisierung und Beschönigung der Vergangenheit, aber ich habe keinen Anlass zu der Anklage, dass ich während meiner Diakonenausbildung „ausgepresst“ worden sei. Gewiss, ich musste oft fast rund um die Uhr hart arbeiten, aber ich wusste vor dem Eintritt in die Diakonenausbildung, was auf mich zukommen würde und wofür ich die Entbehrungen auf mich nehmen wollte. Ich ging nicht in das Rauhe Haus, weil ich, „aus kleinbürgerlich-proletarischen Verhältnissen stammend, auf diese Form der Ausbildung angewiesen“ war. Diakon zu werden war für mich damals nicht nur eine Berufsausbildung, die Aneignung von Wissen für einen Job, sondern eine Einübung zum Dienst für Jesus Christus und seinen und meinen Bruder in Not, oder um es mit Löhe zu formulieren: „...dem Herrn in seinen Elenden und Armen zu dienen“. Ich wollte, wie es der Stephansstift-Diakon Theodor Lilje 1913 formuliert hatte, „Diener der Armen, Elenden, Bedrängten und Betrübten“ werden. Das Rauhe Haus war und ist schließlich eine christliche Einrichtung, also, um mit einem tarifpolitischen Terminus zu reden, ein „Tendenzbetrieb“ und der Diakonenberuf ein kirchliches Amt und nicht irgendein Job zum gesellschaftlichen Aufstieg. Das mag er für manchen Diakon vielleicht auch geworden sein. Wenn mir die „moralisch-religiöse Motivation“, die ich damals als „Berufung“ bezeichnete, als Ideologie angekreidet wird, sehe ich mich diffamiert. Diakon war für mich Beruf im ursprünglichen Sinne des Wortes. Es ist für mich ein gravierender Unterschied, ob ich mich durch einen privaten Unternehmer und dessen Gewinnstreben auspressen lasse oder mich freiwillig in einen sozialen und diakonischen Dienst begebe. Michael Häusler spricht von einem „besonderen Dienstideal“ der Diakone und formuliert weiter:
„Es wäre aber falsch, den diakonischen Dienstbegriff zu einer von den Pastoren theologisch überhöhten Legitimation traditioneller Disziplinierungsstrategien im kirchlichen Raum zu verkürzen, obwohl Elemente einer solchen Entwicklung feststellbar sind und die Möglichkeit des Missbrauchs des Dienstideals zur wirtschaftlichen Ausbeutung des diakonischen Personals jederzeit gegeben war. Eine solche simplifizierende Erklärung verkennt, dass einerseits auch die Diakoniepfarrer dieses Ideal auf sich bezogen und vielfach zu selbstlosem Dienst in einer ihrer sozialen Stellung nicht entsprechenden Tätigkeit bereit waren und dass andererseits eine Vielzahl der Diakone aus ehrlicher, tiefster Glaubenshaltung heraus den diakonischen Dienst unter Verzicht auf andere, bequemere Lebensentwürfe als ihren Beruf gewählt hatten.“
Aus meinen Tagebuchaufzeichnungen, die ich nach Jahrzehnten an manchen Stellen mit Erstaunen lese, ergeben sich zwar oft Klagen über die mangelnde seelsorgerliche Begleitung, über die geistliche „Wüste“ während der Ausbildungszeit im Rauhen Haus, nicht aber wegen Arbeitsüberforderung und spartanischer Lebensbedingungen. Den Zölibat auf Zeit während der Ausbildung habe ich damals freiwillig akzeptiert. Auch die Einpassung in eine „autoritäre, totale Institution“ habe ich bewusst auf mich genommen, weil ich Ausbildung und Dienst im Rauhen Haus als ein Ordensleben auf Zeit sah. Patriarchalische und hierarchische Strukturen waren damals noch weit verbreitet, gehörten mit zum Zeitgeist und hatten nicht nur repressive und negative, sondern auch Seiten der Fürsorgepflicht des Dienstherrn dem Mitarbeiter gegenüber. Dass ich mir die Berufsausbildung durch eigene Arbeit verdienen konnte, erfüllt mich sogar mit Stolz. Ist eine durch BAFöG finanzierte Ausbildung ehrenwerter als eine selbstverdiente? Dass ich „auskleinbürgerlich-proletarischen Verhältnissen aufsteigen“ konnte, finde ich keinesfalls ehrenrührig.
Die Überprüfung der erworbenen theoretischen Kenntnisse durch die praktische Erziehungsarbeit vor Ort und umgekehrt die Reflektierung der Praxis durch die pädagogische, methodische und psychologische Theorie fand ich durchaus sehr gut. Wird nicht in der psychotherapeutischen Disziplin und auch in anderen Ausbildungsbereichen Theorie und Praxis allenthalben miteinander verwoben? War unsere Ausbildung wirklich so mangelhaft und unprofessionell? Hätte man uns sonst nachgraduiert und nachdiplomiert? Einiges an der Aufwertung und Umwandlung der alten Diakonenausbildung von der früheren Wohlfahrtspflegerschule über die Höhere Fachschule bis zur Fachhochschule war aus meiner Sicht auch ein Stück durch die Zwänge der Hochschulreform bedingte Etikettenkleberei. Über die Qualität der heutigen FHS kann ich mir kein Urteil erlauben. Dazu habe ich zu wenig Einblicke. Das geistige Niveau der Absolventen ist nach meiner Beobachtung heute im Schnitt mit Sicherheit höher als vor 40 Jahren, obwohl es damals auch eine Reihe sehr intelligenter Diakone gab. Aber das Bildungsniveau ist auch im Schnitt der Gesamtbevölkerung erheblich gestiegen. Wenn ich das abgehobene Soziologen-Fachchinesisch einiger Professoren der Fachhochschule lese, frage ich mich jedoch, wieweit diese Leute noch praxisnahe Bodenhaftung haben. - Es muss auch die Frage erlaubt sein, ob die jetzige Fachhochschulausbildung des Rauhen Hauses wirklich noch in der Kontinuität der wichernschen Diakonenausbildung steht. Darüber lässt sich sicher streiten.
Die Umbrüche der Jahre 1968 bis heute, die tiefgreifenden Wandlungen im Rauhen Haus, wurden in erster Linie durch den äußeren Druck der Bildungsreform und Hochschulgesetze und dem damit zusammenhängenden Zwang zu großen Zahlen (statt 15 Diakonenschüler jetzt 50 Studierende) herbeigeführt. Die Alternative: Aufwertung des Diakonenberufes durch Fachhochschuldiplom und damit Erhalt der Befähigung zum Heimleiter in vielen Bereichen der Sozialarbeit, oder Bescheidung auf Fachschulniveau führte, wie Wolfgang Braun richtig sieht, zu ambivalentem Verhalten in den entscheidenden Gremien der Brüderschaft und des Rauhen Hauses. Der Zeitgeist der 68er Studentenbewegung mag bei den tiefgreifenden Veränderungen um 1970 herum auch eine Rolle spielen, aber m. E. ist vor allem der Verlust der „moralisch-religiösen Motivation“, wie Braun es nennt, der christlich motivierten Dienstbereitschaft des Diakonen- Bewerbernachwuchses ausschlaggebender Grund für die Veränderungen. Die kirchliche Jugendarbeit bringt nicht mehr die glaubens- und bekenntnismotivierten jungen Leute hervor, wie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Die nachlassende geistliche Qualität kirchlicher Verkündigung wirkt sich aus. Es kommt ja nicht nur im Rauhen Haus und in der Diakonenausbildung zu entscheidenden Qualitätsveränderungen, sondern auch an den theologischen Fakultäten. Auch dort spielt in den 70er Jahren Ideologie oft eine größere Rolle, als christliche Motivation.