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Das Rauhe Haus gilt als „Brunnenstube der Inneren Mission“ und ist die Wiedergeburtsstätte des Diakonenamtes in den Kirchen der Reformation nach über tausendjährigem Dornröschenschlaf während der Kirchengeschichte.
Johann HinrichWichern, geboren am 21. April 1808, hatte angesichts des Kinderelends seiner Zeit das dasRauhe Haus 1833 als junger Kandidat der Theologie mit Hilfe einflussreicher Hamburger Bürger in dem Dorf Horn vor den Toren Hamburgs aus kleinsten Anfängen als „Rettungshaus“ für gefährdete Kinder und Jugendliche gegründet und aufgebaut. Für seine immer umfangreiher werdende pädagogische Arbeit benötigte er schon bald Gehilfen. Aus dem Kreis dieser Gehilfen entwickelte sich später der Beruf des Diakons.
Das Familienprinzip, in dem Wichern seine Schützlinge betreute und erzog, erforderte eine größere Anzahl von Gehilfen.Im Sommer 1834 zog ein Bäckergeselle, namens Josef Baumgärtner, zu Fuß von Basel nach Hamburg, um Wichern als erster Gehilfe für ein mageres Taschengeld von 100 Mark im Jahr bei freier Kost und Logis als Betreuer einer „Knabenfamilie“ zur Hand zu gehen. Nach drei Jahren übernimmt Baumgärtner ein eigenes neu gegründetes Rettungshaus in Mitau im Kurland. 1839 ermächtigte der Verwaltungsrat Wichern, der Ausbildung von Gehilfen im Rauhen Haus "die gröstmögliche Veröffentlichung zu geben". Wichern ließ deshalb von 1843 an über die Gehilfen, schon damals Brüder genannt, eigene Jahresberichte erscheinen. Auf ihre theologische Ausbildung in seinem "Gehilfeninstitut" verwandte er große Sorgfalt. Aus seinen „Gehilfen“, die Wichern aus ganz Deutschland rief und die ihn bei seiner Erziehungsarbeit im Rauhen Haus unterstützten und von den Jungen der Erziehungsfamilien „Brüder“ genannt wurden, baute er den hauptberuflichen Mitarbeiterstab der Inneren Mission auf, die „Berufsarbeiter“, die als Hausväter in „Rettungshäusern“, als Strafvollzugsbetreuer oder als Stadtmissionare in ganz Deutschland und im Ausland bis hin nach Übersee tätig wurden.
Wichern: „Treue, gottesfürchtige Männer, so ernst als wahr, so klug als weise, in der Schrift bewandert, im Glauben gegründet, voll Liebe zum armen Volke, geschickt zu solch einem Umgang, der Menschen fürs Himmelreich gewinnt, wünschen wir in Scharen unter das Volk.“
Erst Jahrzehnte später nannte man diese „Gehilfen“ entgegen Wicherns ursprünglichen Vorstellungen Diakone. Bis in die 1970er Jahre sprach man von der männlichen Diakonie. Daneben gab es den Beruf der Diakonisse. Danach wurden Ausbildung und Beruf im Rahmen der allgemein sich durchsetzenden Emanzipation auch für Frauen geöffnet. Aus der Brüderschaft wurde die Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses. Heute bildet die Fachhochschule des Rauhen Hauses in Hamburg Frauen und Männer zu Diplom-Sozialpädagog(inn)en und Diakon(inn)en aus.
Diakonenexamen am 2. März 1959, eingesegnet am 4.10.1961,
berichtet auf über 60 Seiten über sein Leben: Autobiographie
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hier einige Auszüge:
Kindheit
Am 6.4.1930 wurde ich in Frankfurt an der Oder in der Kleinen Müllroser Straße geboren. Wie meine Mutter immer wieder betonte, war ich ein Sonntagskind, sollte also besonders viel Glück im Leben zu erwarten haben.
Küstrin
Mein Vater war der Tischler Karl Franke aus Hohenwalde bei Frankfurt/Oder. Meine Mutter stammte aus Gnesen in der preußischen Provinz Posen. Sie wurde im August 1925 von der neuen polnischen Regierung aus Polen ausgewiesen, weil sie deutsche Staatsbürgerin bleiben wollte. Nach der Heirat gab meine Mutter 1929 in der bitter armen Inflationszeit das zusammen mit zwei Geschwistern gegründete Lebensmittelgeschäft in Frankfurt/O und Müllrose wieder auf. 1931 zogen meine Eltern nach Küstrin um, wo mein Vater eine Stelle als Kassierer bei der Teerfabrik Max Veith in der Landsberger Straße bekam. Dafür musste er eine Kaution bei der Firma hinterlegen, die verloren war, als diese Firma in Konkurs ging. Es blieb nur die Dienstwohnung im Keller des Bürohauses, in der wir noch einige Jahre wohnten. Ich war zwei Jahre alt, als mein Bruder Jürgen geboren wurde. Ich freute mich zwar darüber, hatte aber fortan immer die Pflicht, auf den „Quaden“ aufzupassen. Als er einmal gegen einen Briefkasten gelaufen war und mit blutender Kopfwunde nach Hause kam, war ich natürlich der Schuldige. Meine Mutter, gelernte Schneiderin, machte aus uns Anziehpuppen. Wir trugen meistens Matrosenanzug und weiße Kniestrümpfe. Meine erste Expedition führte in ein Loch in der Drehscheibe für die Waggons der Teerfabrik. Anschließend sah der Anzug entsprechend aus! Im Alter von drei Jahren wurde ich 1933 mit Keuchhusten und viel Ausschlag ziemlich krank.
Der Arzt schob dies auf das Sumpfklima von Küstrin am Zusammenfluss von Oder und Warthe. So wurde ich zur Schwester meiner Mutter, die keine Kinder hatte, nach Köslin in Hinterpommern geschickt. Ihr Mann war während des 1. Weltkieges Oberfeldwebel in Gnesen gewesen und nun Stadtoberinspektor bei der Kösliner Stadtverwaltung. Das Hobby meines Onkels war die Fotografie, damals noch mit Glasplattenkamera und Magnesiumbeutelblitzlicht. So wurde die gesamte Verwandtschaft mit Bildern versorgt. In der Stadt spielte er eine wichtige Rolle als Führer der Kriegerkameradschaft im Kyffhäuserbund. Wenn er samstags in vollem Ordenschmuck zum Appell ging, sagte Tante Trudchen stolz zu ihm: „Mann, du siehst heute wieder wie ein Pfingstochse aus.“ Das zweite Hobby meines Onkels Fritz war das Angeln. Oft mussten erst die Fische in einen Eimer umquartiert werden, wenn ich abends in die Badewanne gesteckt wurde.
In den ersten Jahren fuhren wir mit den Rädern nach Nedlin an der Heika, wo das Wasser eines großen Stausees die Turbinen eines Kraftwerkes antrieb, oder an den Jamunder See, wo ein Nachbar ein Segelboot zu liegen hatte. Mir war angeln zu langweilig, weil man dabei nicht sprechen durfte. Außerdem war ich wegen der vielen Gräten kein Freund vom Fischessen. Ich ging lieber mit Tante Trudchen auf Pilzsuche. Die ersten Jahre hatte der Onkel für mich einen Kindersattel auf der Fahrradstange, später bekam ich ein eigenes Kinderrad. Da ich aber nicht vom Sattel bis zu den Pedalen reichte, wurde ein Kissen um die Stange gewickelt. Manchmal fuhren wir auch zum Baden nach Großmöllen an die Ostsee, mal mit dem Fahrrad, aber auch mit der Straßenbahn. Die hatte auf der Rückfahrt immer einen Anhänger mit Fischen angekoppelt. Später haben sich Onkel Fritz und Tante Trudchen ein Auto angeschafft, einen Opel-Kadett. Dadurch kam ich viel im Lande herum, mal nach Kolberg oder zum Teufelsstein auf dem Friedhof von Großtychow. Im Winter zogen wir mit dem Schlitten zum Gollenturm. Wir hatten einen großen Bekanntenkreis. So kam es auch manchmal vor, dass ich Onkel Fritz aus einer Gaststätte abholen musste, wenn er „überfällig“ war. Einmal kam er angesäuselt nach Hause und bekam seine Predigt. Da sagte ich dann zu Tante Trudchen: „Warum todderst du denn so viel mit ihm rum, er ist doch lustig?“ Ich erinnere mich auch noch, dass meine Mutter zu Besuch kam und ich auf ihr Klingeln naseweis die Tür öffnete. Ich rief dann: „Tante Trudchen, komm mal, da steht eine fremde Frau vor der Tür“, worauf meine Mutter in Tränen ausbrach.
Wie alles im Leben einmal zu Ende geht, so auch meine drei schönen frühen Lebensjahre in Köslin. Als ich sechs Jahre alt wurde, da lautete der Beschluss meiner Eltern, dass ich zum Besuch der Schule wieder nach Küstrin zurückkehren sollte. Dafür erhielt ich das Versprechen, in jedem Jahr meine Sommerferien in Köslin verbringen zu dürfen. Als Abschiedsgeschenk bekam ich von Tante und Onkel noch einen schönen Tornister aus Vollrindleder, der meine acht Schuljahre durchhielt und später in den Nachkriegsjahren noch meiner Cousine Sieglinde gedient hat. So manchen Winter bin ich auf dem Heimweg aus der Schule auf ihm die Rodelbahn heruntergerutscht. Zu Beginn der Sommerferien wurde ich von meiner Mutter in Küstrin mit einem Schild „Ferienkind nach Köslin“ um den Hals in den Zug gesetzt. Der Schaffner sorgte dann in Stettin dafür, dass ich in den richtigen Zug nach Köslin umstieg. In Stettin begeisterte ich mich immer an dem im Krieg eingeschmolzenen Manzel-Brunnen, und sah gerne zu, wenn an der Drehbrücke über die Oder die Schiffe durchfuhren.
Das erste Schuljahr habe ich nicht unbedingt ernst genommen. Wir mussten jeden Tag Schiefertafel, Schwamm und Griffel mit zur Schule schleppen und lernten noch zwei Jahre lang die altdeutsche Sütterlinschrift: auf , ab, auf, Pünktchen drauf, fertig ist das i. Als wir später auf Schreibhefte und Tintenfederhalter umstiegen, gab es schon manche Ohrfeige wegen der Kleckse. Unser Lehrer Zimmermann hat uns getreulich die vier Grundschuljahre hindurchgeleitet: streng, aber gerecht. Auf dem Schulweg mussten wir immer an der Verladerampe der Bahn vorbei. Als dort einmal Soldaten verladen wurden, war es für meinen Freund und mich so interessant, dass wir vergaßen, zur Schule zu gehen. Zufällig kam mein Vater vorbei, nahm uns beide aufs Rad und lieferte uns in der Schule ab. Ein besonderes Erlebnis war es für mich, als einmal ein Zeppelin über Küstrin schwebte...
1937 zogen wir dann in die Landsbergerger Straße 6a über dem Restaurant Hohenzollern. Die Häuserblocks gehörten dem Unternehmer Kube. Wir wohnten im Hinterhaus im 4. Stock direkt unter dem Pappdach. Im Winter war es lausig kalt, im Sommer vor Hitze nicht auszuhalten. Da mussten wir als Kinder die Kohleeimer die vier Treppen aus dem Keller hochschleppen. Für fünf Familien gab es eine Toilette und einen Wasserhahn, glücklicherweise neben unserer Wohnung. Zur Waschküchengemeinschaft gehörten noch die Mieter des Nachbarhauses. Zum Baden wurde abends eine Wanne in die Küche gestellt und Wasser auf dem Kohleherd heiß gemacht. Das gebrauchte Wasser wurde wieder mit Eimern in den Ausguss gegossen. Wir hatten mit vier Personen nur zwei Zimmer und so baute mein Vater für uns beide ein Doppelbett, um alle im Schlafzimmer unterzubringen. Mein Vater war als Lokomotivheizer auch nachts unterwegs und musste anschließend tagsüber schlafen. Dann mussten wir immer leise sein. Das änderte sich erst, als er eine Stellung beim Elektrizitätswerk am Bahnhof erhielt. Für mich war es immer interessant, wenn ich ihm seinen Henkelmann mit dem Mittagessen bringen musste...
Es gab viele Jungen in meinem Alter, und wir waren ständig auf Entdeckungen aus. Schon der Park des Restaurants „Hohenzollern“ bot ungeahnte Möglichkeiten, ebenso der alte Friedhof und die Feuerwache gegenüber. Auf dem Schießstand buddelten wir im Auffangsand nach den Bleikugeln der Kleinkalibergeschosse, die wir als Munition für unsere Gummischleudern benötigten.
Auch die ersten Rauchversuche wurden hier unternommen. Die Zigarettenautomaten waren damals noch nicht so sicher wie heute, und nach heftigem Klopfen fiel schon mal eine Schachtel durch.
Hinter unserem Park floss die Warthe, die oft Hochwasser führte. Wir tobten dann viel auf den Flößen herum. Auch die Pioniere mit ihren Pontonbrücken konnten uns begeistern. Besonders bewundert habe ich den Mut der Pioniere, die mit langen Stangen und Sprengladungen auf der Oder von Eisscholle zu Eisscholle sprangen und die Packeisbarrieren vor den Brückenpfeilern sprengten. Im Winter wurde der Kaiserkolk zum Schlittschuhlaufen freigegeben. Auch die Brauereien ließen ihre Arbeiter hier ihr Eis für den Eiskeller sägen.
Es gab viele Höhepunkte im Jahr. Da waren die Sonnenwendfeiern in der Altstadt, immer mit viel Trommlern und Fanfaren der Hitlerjugend. Da war der Tag der Wehrmacht in den Kasernen. Ich war meistens bei den Pionieren oder der Artillerie, wo wir mit den Geschützen mitfahren konnten. Die Infanterie hatte da weniger zu bieten. Besonders in Erinnerung ist mir noch eine Vorführung der Kosaken, die auf ihren flinken Pferden mit Säbeln Tücher von der Erde aufhoben. Auch der 1. Mai mit den Umzügen der Betriebe war für uns Kinder interessant, besonders der Wagen der Norddeutschen Kartoffelmehlfabrik, von dem aus man so einen weißen Fabrikzucker in die Menge warf. Im Sommer gingen wir oft ins Freibad an der Warthe zwischen den beiden Bahnbrücken.
Ein schwerer Knacks für meine junge Seele war der Tag nach der „Reichskristallnacht“ am 10. November 1938. Ich kam gerade vom orthopädischen Turnen, das mir der Arzt verordnet hatte, da meine Körperhaltung nicht den damaligen Vorstellungen entsprach: Bauch rein, Brust raus! Die Luft roch nach Brand, und ich sah, dass die Synagoge abgebrannt war. Eine große Volksmenge warf Steine gegen die neben der Synagoge liegende Villa eines Rechtsanwalts. Mir wurde erklärt, dort wohne ein Jude, ein Begriff, mit dem ich nicht viel anfangen konnte. Ich inspizierte dann die rauchenden Trümmer der Synagoge und fand in einer Ecke einen Haufen angekokelter Bücher. Da mich Bücher schon immer interessiert haben, nahm ich eins mit nach Hause. Mein Vater schimpfte fürchterlich, was er damit solle, die Schrift könne doch kein Mensch lesen. Ich entdeckte noch, dass auch am "Stern" etliche Schaufensterscheiben eingeschlagen worden waren.
Besonders lustig fanden wir Kinder es, Zündblättchen auf die Straßenbahnschienen zu legen, da diese beim Überfahren immer laut knallten. Wir beobachteten das Ereignis natürlich immer aus gehöriger Entfernung, denn es konnte auch passieren, dass der Schaffner heraussprang und hinter uns herlief. Aber auf dem dahinter liegenden Friedhof wussten wir besser Bescheid.
Am 1. September 1939 brach der Krieg aus. Ich saß abends am Fenster und beobachtete aus dem vierten Stockwerk den Abendhimmel, wie die Sonne hinter den Wolken unterging und sah in meiner Phantasie einen Sarg und ein Schwert. Meine Mutter, die ja schon vom 1. Weltkrieg her Hunger kannte, schickte uns zu mehreren Bäckern, um Brot zu kaufen. Als wenige Tage später Lebensmittelmarken ausgegeben wurden, wurden die Brotrationen für uns gekürzt. Bei einer befreundeten Familie Thomas machten wir uns ein Stück Garten urbar. Der Mann fiel als Feldwebel bei den Pionieren bereits in den ersten Kriegstagen. Auch unser Klassenlehrer wurde Soldat. Ich wurde für fähig befunden, auf die Mittelschule in der Altstadt überzugehen. Dort waren monatlich 10 Reichsmark Schulgeld fällig, die meine Eltern nicht übrig hatten, jedoch von Onkel Fritz anstandslos übernommen wurden, ebenso die Straßenbahnmonatskarte. Auch die neuen Schulbücher kosteten viel Geld. Mit mir gingen meine alten Schulkameraden Siegfried Zedler und Friedrich Wilhelm Mollenbauer zur neuen Schule. In der Altstadt eröffnete sich mir eine völlig neue Welt, die Friedrichs des Großen mit den Kasematten. Oft ging ich sonntags in das unterirdische Museum mit den Pyramiden aus Kanonenkugeln. Eindrucksvoll waren für mich auch das Museum im Schloss und die Schlossfestspiele. Als wir in der Schule von der Schlacht bei Zorndorf sprachen, setzte ich mich sofort aufs Rad und glaube dort noch Spuren zu finden. Meine Zeit war jetzt sehr begrenzt, denn es gab viele Hausaufgaben, vor allem das Pauken englischer Vokabeln, die meine Mutter streng überwachte. Den Rest der Freizeit beanspruchte „der Führer“. Trotz unserer knappen Haushaltskasse wurde ich für meinen Stand als Pimpf vorschriftsmäßig eingekleidet: Für den Sommer erhielt ich ein braunes Hemd und eine kurze Manchesterhose: eine Handbreit über dem Knie. Sie wurde von einem Koppel und einem Schulterriemen gehalten. Das Koppelschloss trug die Aufschrift „Blut und Ehre“. Am Ärmel trugen wir ein Dreieck mit der Aufschrift „Gau Ost – Mark Brandenburg. Ein schwarzes Halstuch wurde von einem Lederknoten zusammengehalten. Es wurde genau festgelegt, ab wann die Winteruniform zu tragen war: schwarze Skihose, am Knöchel zusammengebunden, Skibluse und Skimütze.
In einem Bodenraum der ehemaligen Kaserne in der Landsberger Straße befand sich unser Kameradschaftsheim. Hier lernten wir das Lesen von Landkarten und die Dienstorder. Der praktische Teil spielte sich auf dem Hof ab. Bisher gute Freunde bekamen eine „Affenschaukel“, rotweiß für Jungschaftsführer, grün für Jungzugführer, rot für Fähnleinführer und sollten uns zu tüchtigen Hitlerjungen machen. Wir übten Antreten in drei Reihen, Marschieren und richtig grüßen. Wer unangenehm auffiel, musste Kniebeugen oder Liegestützen machen oder auf dem Bauch robben. Manchen Sonnabend und Sonntag machten wir auch Fahrten in die Umgebung mit Geländespielen, Reiterkämpfen und Völkerball. Nach dem Willen des Führers sollten wir „zäh wie Leder, flink wie Windhunde und hart wie Kruppstahl“ werden.
Küstrin als Garnisonstadt hatte an der Zorndorfer Straße auch ein Lazarett mit vielen Kranken und Verwundeten. Für deren Genesung mussten wir Heilkräuter sammeln die auf dem Schulboden getrocknet wurden. 1940 war noch ein Jahr der Siege, und nach jeder Sondermeldung im Radio mussten wir auf dem Schulhof an der Oderbrücke antreten und bekamen eine Ansprache des Rektors zu hören. Anschließend sangen wir das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied und konnten danach wieder in die Klassen zurückgehen. In der Knabenmittelschule waren wir aus allen drei Stadtteilen (Neustadt, Altstadt und Kietz) zusammengewürfelt, aber auch aus den umliegenden Dörfern. Ich erinnere mich noch an einen Lehrer, der immer ein Loch in der Zeitung hatte, wenn er uns Arbeiten schreiben ließ. So merkte er schnell und unauffällig, wer beim Nachbarn abschrieb. Er ließ auch unartige Schüler nach vorne kommen. Dann gab es Hiebe mit dem Rohrstock auf die Handfläche. Einmal zog jemand seine Hand weg, und unter dem Gelächter der Klasse schlug er sich selber aufs Knie. Seitdem hielt er die Hand des Opfers immer fest.
Gnesen
Im November 1941 zogen meine Eltern nach Gnesen um. Meine Mutter freute sich, wieder in ihrer Heimat im Kreise ihrer Geschwister zu sein. Bis auf zwei Schwestern, deren Männer in Berlin gute Beamtenstellungen hatten, waren alle noch lebenden zwölf Geschwister wieder zusammen. Mein Vater hatte in der Volksschule eine Stelle als Hausmeister mit Dienstwohnung bekommen. Die Wohnung hatte aber nur drei kleine Zimmer für vier Personen. So erreichte ich es, dass ich wieder zu den jetzt in Gnesen wohnenden Onkel Fritz und Tante Trudchen ziehen durfte, die mit zwei Personen eine Vierzimmerwohnung und noch zwei Zimmer auf dem Boden hatten. Onkel Fritz war Standesbeamter und hatte auch die „Deutsche Volksliste „ zu verwalten, die festlegte, wer Deutscher und wer Pole war. So musste er auch seine Schwägerin und seinen Schwager wieder zu Deutschen machen, die zusammen mit dem Großvater das elterliche Geschäft in der Bromberger Straße in der polnischen Zeit weitergeführt hatten. Im Dezember 1939 wurde meine Cousine Sieglinde Brummund geboren. Da Tante Alma durch das Lebensmittelgeschäft mit polnischem Personal und das Markeneinkleben sehr eingespannt war, gab sie Sieglinde auch zu Tante Trudchen in Obhut. Dadurch wurde ich wieder Babysitter. Einmal habe ich beim Spielen den Kinderwagen umgekippt. Ich kam in Gnesen wieder auf die Mittelschule, die anfangs neben der evangelischen Kirche in der Friedrichstraße war. Dort wurde dann ein Internat für auswärtige Schüler eingerichtet und wir zogen in die Schule am Wasserturm um, was für mich zu einem sehr langen Schulweg durch die ganze Stadt führte. Dadurch bekam ich trotz des Krieges ein neues Fahrrad. Da wir ein Vierpersonenhaushalt waren und auch einen großen Garten hatten, bekamen wir eine polnische Haushaltshilfe, Helene Frankowski. Tante Trudchen versuchte, ihr die deutsche Sprache beizubringen, musste aber meistens polnisch mit ihr sprechen. Wir haben uns gut verstanden, was ich von ihrer Nachfolgerin, Therese Wisnewski, nicht sagen konnte. Helene musste dann in einen Rüstungsbetrieb. Unter uns wohnte eine Familie Book, die auch ihren Garten neben unserem hatte. Mit deren Tochter Ursel habe ich viel zusammen gespielt. Als wir beide etwa 14 Jahre alt waren, wollte sie plötzlich nichts mehr von mir wissen und ging nur noch mit ihrer Freundin Inge Reimann. Ich hatte dann immer nur Umgang mit Jungen, mit Klassenkameraden und welchen, die ich vom Jungvolk her kannte. Vom Jungvolkdienst hielt ich nicht viel. Wir hatten unser Heim in einer Baracke neben dem Arbeitsamt, mit einem großen freien Platz, auf welchem wir ständig gedrillt wurden, meistens am Mittwoch Nachmittag und fast jeden Sonntag. Es gab Sportfeste und Parteiversammlungen, auf denen wir singen mussten. Einmal wurde mir wegen Befehlsverweigerung vor versammelter Mannschaft Halstuch und Knoten abgenommen, weil ich mich geweigert hatte, mit meiner frisch gewaschenen Uniform durch eine Pfütze zu robben. In sehr übler Erinnerung ist mir auch ein Ferienlager auf der Insel im Lettberger See. Wir schliefen auf dem Dachboden einer Fischerhütte im Stroh. Als Latrine diente eine Grube mit Donnerbalken. Eines Morgens lag ein „Nachtwächter“ in der Nähe des Hauses. Da hatte es wohl jemand nachts nicht mehr bis zur Latrine geschafft. Da sich niemand als Verursacher meldete, wurden wir alle den ganzen Tag über die Wälle der alten Piastenburg gescheucht. Weil auch das Essen so miserabel war, sind dann nachts heimlich einige über den See geschwommen und haben von einem Bauern aus die Eltern angerufen. Es kamen dann viele Eltern, darunter auch mein Vater. Er brachte mehrere Körbe voll Johannisbeeren aus unserem Garten mit. Davon haben wir jeder nur drei Trauben gesehen, den Rest verputzten unsere Führer mit den BDM-Führerinnen, die für uns kochen sollten. Mein Vater hat dann meinen Bruder mit nach Hause genommen. Bei mir half alles Betteln nichts, ich musste bis zum Ende aushalten und sollte abgehärtet werden.
In der Mittelschule war ich ein guter Schüler und brauchte mich nicht besonders anzustrengen. Eines Tages hatte mein Onkel erfahren, dass durch eine Schulreform die beiden obersten Klassen abgeschafft werden sollten. Das war eine der Neuerungen, die der Gauleiter Greiser in seinem Reichsmustergau einführte. Es gab dann nur noch eine achtklassige Hauptschule. Danach sollten die Schüler Fachschulen besuchen, weil er hauptsächlich Verwaltungskräfte auf unterer Ebene benötigte. Onkel Fritz nahm dann Verbindung zu Direktor Dr. Schlau vom Gymnasium auf und erreichte, dass ich überwechseln konnte. Leider bekam ich kurze Zeit später eine schwere Krankheit, die ich mir wahrscheinlich beim Baden geholt hatte: Lungen-, Rippenfell- und Mittelohrentzündung. Im Krankenhaus Bethesda wirkte wegen kriegsbedingter Personalnot nur der alte Sanitätsrat Anders, der unsere Familie schon während des 1. Weltkrieges betreut hatte. Die heute schnell wirksamen Medikamente gab es damals noch nicht. Onkel Fritz hat dann einen Krankenwagen bestellt und mich nach Posen bringen lassen. Dort war ich mit vielen Verwundeten zusammen auf einem Zimmer. Später kam ich ins Kinderkrankenhaus, wo es langsam wieder aufwärts ging. Gerettet hat mich wahrscheinlich eine Blutspende meiner Mutter. Meine Mutter hatte sich in Posen ein Zimmer genommen und war jeden Tag bei mir. Als Dank für meine schnelle Genesung hat sie mir ihre goldene Armbanduhr geschenkt. Da meine Krankheit über das Ende der Sommerferien hinaus dauerte, fehlten mir auf dem Gymnasium die Anfangsgrundlagen in Latein und höherer Mathematik. Die Vokabeln paukte dann Tante Trudchen mit mir. Die Vokabeln, die ich nicht konnte, musste ich zehnmal aufschreiben. Wir waren 50 Schüler in der Klasse, und es herrschte Mäuschenstille. Wer nicht mitarbeitete, lief bald im blauen Anzug als Lehrling rum. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Physik und Chemie. Da sich die Ostfront allmählich auf Richtung Heimat zu bewegte, häuften sich die Verwundeten in den Lazaretten und unsere Schulen wurden geräumt, um als Hilfslazarette zu dienen. Unsere Klasse wurde geteilt und der Unterricht in Gaststätten, Gemeinderäumen und Bahnhofswartesälen abgehalten. Unsere Lehrer, meist alte Damen und Herren aus der Kaiserzeit, mussten in den Pausen quer durch die Stadt rasen. War nachts Fliegeralarm, brauchten wir am nächsten Morgen erst zwei Stunden später zum Unterricht kommen. Am 25. März 1944 wurde mein Vater Soldat und kam zu einer Kraftfahrereinheit, die im Spessart Holz für die Holzgasgeneratoren fällte. In den letzten Kriegstagen kam er wegen Magenbeschwerden nach Prag in ein Lazarett, von wo aus er dann in russische Gefangenschaft nach Sibirien gebracht wurde. Wir Jungen stürzten uns nach seiner Einberufung sofort auf seine Werkzeugkiste, die wir vorher nur bewundern durften. Meine Mutter musste mit einem polnischen Hausmeister und einem polnischen Dienstmädchen die Volksschule in Ordnung halten und die tägliche Milch an die Schulkinder ausgeben. Ich hatte jeden Tag von den Feldrändern Kaninchenfutter herbeizuschaffen und wöchentlich die Kaninchenställe auszumisten. Onkel Fritz war der Ansicht, dass ich auch musikalisch werden müsste, da er leidenschaftlich gerne Zither spielte. Ein Klavier hatte mir zu viele Tasten, und so entschied ich mich für die Geige. Mein Lehrer war eine Kapazität, nämlich der Domorganist, den Onkel Fritz einige Zeit zuvor vom Polen zum Volksdeutschen gemacht hatte, damit er seine Stellung behalten konnte. Ich konnte inzwischen einige Volkslieder mittelmäßig spielen, hatte aber nach einigen Monaten keine Lust mehr. Viel lieber kletterte ich in den Türmen des Domes herum, der den ganzen Krieg über geschlossen und Baustelle war. Auch den Stadtförster hatte Onkel Fritz zum Volksdeutschen befördert, und dafür gab es dann gelegentlich auch mal einen Hasen. Gehungert haben wir während des Krieges jedenfalls nicht. Wenn es zum Mittag Schwarzsauer gab, oder „nackte Mäuse“, rohe graue Kartoffelklöße, habe ich manche Tracht mit der Klopppeitsche eingesteckt und musste hungrig vom Tisch aufstehen. Ich bin dann zu Tante Alma gefahren und habe mit Vetter Ulli Wettessen gemacht, wobei ich einmal mit 13 Schmalzstullen Sieger blieb. Bei mir machten sich inzwischen auch die Flegeljahre bemerkbar, die Onkel Fritz als ehemaliger pommerscher Feldwebel mit seinem eisernen Gewehrreinigungsstock und der siebenstriemigen Klopppeitsche mehr oder weniger erfolgreich bekämpfte. Einmal hatte ich mich nach seiner Ansicht nicht richtig gekämmt. Er ging mit mir zum Friseur und ließ mir eine Glatze schneiden. Meine stolze Hitlertolle mit linkem Seitenscheitel sank auf den Fußboden. Ich habe dann täglich sein Haarwuchsmittel (Klettenwurzelöl) mit benutzt und hatte bald wieder meine alte Haarpracht. Seine ständigen Begleitworte waren: „Du kannst bei mir das Himmelreich auf Erden haben, aber parieren musst du!“ und: "Du musst mit den Augen stehlen und jedem das Seine lassen." Wir haben zusammen stundenlang Holz gesägt und bei den gemeinsamen Spaziergängen hat er mir viel erklärt. Ansonsten haben wir uns gut verstanden und waren mit Patti, Manni, Putti und Moppel (Begriffe, die meine Cousine Sieglinde in ihrer Kindersprache geschaffen hatte) eine prächtige Familie. Onkel Fritz nahm mich auch mit, wenn der Kyffhäuserbund seine wöchentliche Schießübung mit Kleinkalibergewehren hatte. Ich musste dann im Unterstand die Treffer anzeigen. Anschließend durfte ich auch selber schießen. Das führte dazu, dass ich beim Jugendwettbewerb in Gnesen den zweitbesten Platz holte. Auch Pistolenschießen hat er mir beigebracht. Einige Male bin ich auch zum Konfirmandenunterricht gegangen, aber bald ließ uns der HJ-Dienst dazu keine Zeit mehr. An einem Sonntagvormittag mussten wir im Stadttheater antreten. Wir mussten auf der Bühne einige Lieder singen, mehrere Reden anhören und bekamen dann ein Sparbuch mit 5 Reichsmark Guthaben in die Hand gedrückt. Onkel Fritz erklärte mir später, dies sei meine Jugendweihe gewesen.
Im Sommer 1944 wurden wir vom Jungvolk in die Hitlerjugend übernommen. Dazu fuhren wir mit dem Zug nach Posen, wo im Reichsgautheater extra für uns eine Egmont-Aufführung gespielt wurde. Das war sehr erhebend, wie die Schauspieler mit wehenden Fahnen und Trommelwirbel über die Bühne zogen. Vom ewigen Marschieren hatte ich die Nase voll und meldete mich zur Motor-HJ. Da mussten wir dann jede Woche an einem Nachmittag auf den städtischen Bauhof und haben ein Motorrad auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. 1944 gab es noch einen schönen Sommer. Wir waren viel in der Badeanstalt, und ich erwarb mein Fahrtenschwimmerzeugnis: 45 Minuten über den See schwimmen. Gelegentlich waren wir mit dem Direktor Dr. Schlau auch mit dem Viererruderboot auf dem Tremessener See, wo die Schule ein Bootshaus hatte. In gewissen Abständen kamen auch die Werbeoffiziere der SS zu uns in die Klasse und wollten uns als Nachwuchs anwerben. Aber wir hatten dazu keine Meinung und meldeten uns geschlossen mit 14 Jahren als Offiziersbewerber des Heeres, um endlich Ruhe vor den SS-Werbern zu haben. In den Ferien habe ich zusammen mit meinem gleichaltrigen Vetter Ulli einen Sanitäterkursus im Lazarett mitgemacht. Man hat uns dann weggejagt, weil wir zu viele Dummheiten machten. Ullis Vater, früher polnischer Soldat, war auch schon vor längerer Zeit zur SS geholt worden. So mussten wir auch viel in Tante Almas Laden helfen, etwa Sauerkraut stampfen und Kartoffeln abwiegen. Trotzdem blieb uns noch Zeit, die Bauern der umliegenden Dörfer zu besuchen, die im Laden der Tante Kunden waren. Ich bin da auch mal auf einem Ziegenbock geritten.
Zum Herbst 1944 gab es dann keine Siegesmeldungen im Radio mehr, nur noch Nachrichten über strategische Absetzbewegungen. Ulli musste mit seiner Klasse der Volksschule in Richtung Osten und Panzergräben ausheben. Wir vom Gymnasium blieben davon verschont. Weihnachten 1944 haben wir im Kreise unserer Verwandtschaft das Fest mit Mohnkuchen und Mohnstriezeln gefeiert, jeden Feiertag in einer der fünf Familien. Als einziger Mann war nur noch Onkel Fritz zu Hause, der mit seiner Plattenkamera und Blitzlichtpulver fotografierte. Wenn er dann anschließend bei rotem Licht stundenlang die Bilder entwickelte, lag immer die Badewanne voller Bilder oder sie hingen an der Wäscheleine darüber. Es war für uns Ehrensache, auch immer zwei Verwundete aus den Lazaretten zu Weihnachten einzuladen. Im Januar 1945 wurde es unheimlich kalt, und ich bemerkte, dass ganze Gruppen von Pferdewagen in der Dunkelheit auf Nebenstraßen um die Stadt herumgeleitet wurden. In der Zeitung hieß es, dass kein Mensch seinen Platz verlassen dürfe und der Führer bald seine Wunderwaffe einsetzen werde, die mit einem Schlage alle Feinde vernichten würde. Onkel Fritz musste mit anderen nicht mehr wehrfähigen alten Herren und ab 15jährigen Jünglingen auch zum Volkssturm. Sie sammelten sich in einer Gaststätte und erhielten einen Karabiner und eine Armbinde mit der Aufschrift „Volkssturm“, dazu einige „Hindenburglichter“ (ähnlich den heutigen Teelichtern) und für drei Tage Marschverpflegung. Da Onkel Fritz starker Raucher war, musste ich ihm noch 300 Zigarettenhülsen mit Tabak stopfen. Etliche fielen davon auch für mich ab und eine Zigarre habe ich auch probiert. Aber das waren meine letzten Rauchversuche.
Flucht nach Wildau bei Berlin
Bis zum 19. Januar hatten wir noch geregelten Schulunterricht, obwohl schon einige Mitschüler aus den Dörfern fehlten. Dann hieß es plötzlich: „Gnesen muss geräumt werden.“ Tante Alma gab Ulli und mir 1.000 RM. Wir sollten sehen, dass wir bei einem befreundeten Gutsbesitzer Pferd und Wagen bekämen. Aber der war schon per Auto geflüchtet. So packten wir einige Taschen und gingen zum Bahnhof. Ich hatte meinen Tornister mit Karabinermunition gefüllt und darum vorschriftsmäßig eine Decke gerollt. Tante Trudchen hat dann die Munition ausgeschüttet und dafür Wäsche eingepackt. Ich zog die langen Stiefel meines Vaters an und den Pelzmantel von Onkel Fritz. Auf dem Bahnhof stand ein Zug mit offenen Güterwagen, der schon fast besetzt war. Die Neuankömmlinge haben dann einfach Gepäckstücke rausgeworfen nach dem Motte: Erst kommen die Menschen mit! Ich fand einen Platz in einem leeren Bremserhäuschen, wo ich glaubte, den Zug gegen Partisanen und Tiefflieger verteidigen zu müssen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, waren die Russen schon vor Posen, und wir fuhren einen Umweg nach Süden über Schlesien, von Glogau an dann wieder nordwärts in Richtung Berlin. Die Reise dauerte bei 20 ° Kälte mit Unterbrechungen zwei Tage und zwei Nächte. Als meine Tante Anni mit ihrer dreijährigen Ingrid einen Halt zum Austreten nutzen wollte, fuhr der Zug plötzlich an, und sie blieben zurück. Auf dem nächsten Bahnhof fuhren dann zwei Männer mit einer Draisine zurück und holten sie wieder ab. Kurz vor Berlin türmten der polnische Heizer und Lokführer, obwohl der Bewacher noch hinterhergeschossen hatte. Unser Zug wurde dann von einer Werkslokomotive der Schwarzkopfwerke auf ein Werkgleis in Wildau gezogen, und wir wurden in Holzbaracken untergebracht. Unsere Sippe bestand aus sieben Frauen und acht Kindern, wobei ich mit 14 Jahren der Älteste war. Tante Alma hat dann alle Lebensmittelvorräte, die sie aus dem Laden noch mitgenommen hatte, an alle Verwandten verteilt. Wir kamen vorübergehend für etwa zwei Wochen in ein Barackenlager der Lokomotivfabrik Schwarzkopf. Als erstes hat meine Mutter den Lagerleiter darum gebeten, uns die Gewehre wegzunehmen. Dann wurden wir entlaust und ärztlich untersucht, auch auf Läuse. Wir bekamen Lebensmittelmarken. Dieser Zuwachs an Flüchtlingen stellte die kleine Fabrikarbeitergemeinde von ca. 3.000 Einwohnern und zusätzlich 3.000 Fremdarbeitern vor gewaltige Versorgungsprobleme. Anschließend wurden wir in Privatwohnungen untergebracht. Wir kamen mit drei Familien (8 Personen) im Dachgeschoss der Villa des Fabrikdirektors Stamm unter. Dort hatten wir es warm und sogar eine kleine Küche. Toilette und Badewanne mussten wir mit dem Direktor zusammen benutzen. Er war meistens im Werk und seine Frau war schon „zu Besuch“ bei Verwandten in Westdeutschland. Wir fünf Jungen, alle etwa im gleichen Alter, begannen dann, die neue Umgebung zu erkunden. Die nachfolgenden Russen waren noch für einige Wochen an der Oder aufgehalten worden. Meine Mutter bat den Direktor Stamm, ob er mir nicht eine Arbeit im Werk besorgen könne, damit ich von der Straße käme. Sie meldete mich zur Kaufmännischen Handelsschule von Dr. Großstück in Königswusterhausen zum Abendkursus an. So fand ich mich schon am nächsten Tag als Praktikant in Blauleinen in der Lehrlingswerkstatt wieder. Als erste Arbeit musste ich einen dicken Eisenklotz 1 cm rechtwinklig feilen, in meinen Augen eine sinnlose Arbeit. Später kam ich an die elektrische Eisensäge und musste von einem langen Rohr dünne Eisenringe abschneiden. Die wurden dann in der Schweißerei zu Panzerfausthaltern für die Fahrräder des Volkssturms verarbeitet, die letzte Wunderwaffe des Führers gegen die russischen Panzer. Jeder Werksangehörige bekam einen Ausweis, den er dem Werkschutz beim Betreten und Verlassen des Werkes vorweisen musste. Außerdem mussten alle Mitarbeiter sichtbar in einer Hülle einen Button mit dem Namen und in der Farbe ihrer Abteilung tragen. Niemand durfte ohne Genehmigung eine fremde Halle betreten. Nachts haben wir meistens im Keller oder im kurz zuvor erbauten Luftschutzstollen geschlafen, da in und um Berlin herum viele Bomben abgeworfen wurden.
Kriegsende
Am 2. April hörten wir dann das Donnern der näherkommenden Kanonen und Panzer und gingen in den Stollen, 40 Meter tief unter der Erde. Bald darauf kam ein Trupp deutscher Soldaten durch den Stollen, und meine Tante sagte zu ihnen: „Macht, dass ihr wegkommt, die Russen sind schon da.“ Aber ein Soldat erwiderte: „Wir sind SS und keine Wehrmacht, wir kennen keine Angst.“ Kurz darauf kamen dann die Russen und trieben uns nach draußen. Da wurden alle Männer aussortiert. Mich wollten sie auch mitnehmen, aber meine Mutter schimpfte auf Polnisch mit ihnen, dass ich noch ein Kind sei, da ließen sie mich bei ihr.
Die Fremdarbeiter verließen ihr Lager und plünderten den Ort Wildau völlig aus. Dann zogen sie in ihre Heimatländer. Auch an Direktor Stamm, den die Russen mitgenommen hatten, meinten sie Rache nehmen zu müssen, und zündeten die Direktorenvilla an, die bis auf die Kellermauern niederbrannte. Dadurch verloren wir auch noch die letzten Kleidungsstücke und das Geschirr, das uns Tante Martha aus Berlin gebracht hatte. Tante Hilda aus Berlin hatte selber nichts mehr, da sie ausgebombt war und mit ihrer Familie in einer notdürftig reparierten Ruine lebte. Die zweite Plünderungswelle brach durch die russischen Nachschubsoldaten mit ihren kleinen Panjewagen über uns herein. Da wurde ich auch noch meine Stiefel los und musste ein freundliches Gesicht dazu machen. Den Pelzmantel ließ man mir, weil der Mai schon sehr warm war. Er hat mir in dem kommenden Winter als Zudecke nachts gute Dienste geleistet. Wir wurden durch den Bürgermeister bei einem älteren Ehepaar untergebracht, das uns ein Zimmer abgeben und in seiner Küche kochen lassen mussten. Wasser und Strom gab es nicht. Zur Verrichtung unserer Notdurft mussten wir in die Büsche der Dahmewiesen gehen. Onkel Fritz und Tante Trudchen hatten es noch am besten getroffen, sie wohnten allein in einer Gartenlaube. Hier tagte dann auch regelmäßig der Familienrat, zog Bilanz und plante die weitere Zukunft. Onkel Fritz hatte noch mit erfrorenen Füßen flüchten und sich bis Wildau durchschlagen können. Onkel Alfred war mit Pferd und einer Kutsche von Gnesen bis Frankfurt/Oder und die letzten 100 km zu Fuß nach Wildau gekommen. In den letzten Kriegstagen wurde er noch nach Hannover eingezogen und galt seitdem als vermisst. Onkel Rudi galt schon längere Zeit nach Kämpfen mit Partisanen in Jugoslawien als vermisst. Onkel Hermann war in amerikanischer, mein Vater in Sibirien in russischer Gefangenschaft. In Wildau kursierte das Gerücht, der Bürgermeister soll zum sowjetischen Ortskommandanten gesagt haben, er solle doch die vielen Schwarzmeerdeutschen wieder nach Russland zurückschicken, besser auch gleich alle Flüchtlinge in die Sowjetunion bringen, da er sie nicht ernähren könne. Daraufhin haben wir eine zweirädrige Karre organisiert, unser Gepäck darauf geladen und sind die 50 km nach Berlin gezogen. Unterwegs brach ein Rad, und jeder musste bei der Hitze seinen Rucksack selber tragen. So standen wir unverhofft bei Tante Martha in Wilmersdorf vor der Tür. Glücklicherweise war ihre Nachbarin verreist, und wir konnten deren Wohnung mitbenutzen, da sie den Schlüssel bei Tante Martha abgegeben hatte. In Berlin gab es für uns keine Zuzugsgenehmigung und keine Lebensmittelkarten, und nun musste jeder seinen eigenen Weg gehen. Tante Anni beschloss, mit ihren beiden Kindern in den Westen zu gehen, ebenfalls Tante Else und Frau Schiewe, die im Laden zusammengearbeitet hatten. Onkel Fritz und Onkel Hermann übernahmen jeder eine 20 Morgen große Siedlerstelle des aufgeteilten Gutes in Kotzen bei Rathenow, wo sie im Schloss wohnen konnten. Tante Irma und meine Mutter beschlossen, nach Frankfurt/Oder zu ziehen, wo sie hofften, bei Verwandten unterzukommen. Wir fuhren die 80 km in zwei Tagen und eine Nacht auf einem Güterzug, der mit demontierten Maschinen in Richtung Sowjetunion rollte und wurden unterwegs ständig von plündernden Polen und Russen belästigt, die meine Mutter mit polnischen Schimpfwörtern verscheuchte. In Hohenwalde gab es keine Möglichkeit für uns, da das Elternhaus meines Vaters schon bis unters Dach voll belegt war.
Müllrose
Im Juli 1945 kamen wir in Müllrose an, einer märkischen Kleinstadt südlich von Frankfurt von etwa 2.000 Einwohnern. Bei einer Schwester meines Vater, die zwei kleine Kinder hatte, fanden wir eine Unterkunft. So wohnten wir mit acht Personen in zwei Zimmern und Küche. Der Ort war bei Kriegsende von Zivilisten geräumt und Hauptkampflinie gewesen. Die Brücke über den Oder-Spree-Kanal war gesprengt, und die Russen hatten eine hölzerne Notbrücke erbaut. Die Stadt selbst war nicht zerstört, nur durch Plünderungen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Es gab kein Vieh und keine Lebensmittel für die allmählich zurückflutende Bevölkerung. Glücklicherweise wuchs in den Gärten schon etwas Gemüse, und aus den umliegenden Wäldern sammelten wir Blaubeeren und Pilze, die meine Tante Anni dann bei den Bauern gegen Getreide eintauschte. Das Korn haben wir in der Kaffeemühle zu Schrot für eine Suppe gemahlen. Die Stadt lag an der Reichsstraße von Frankfurt/Oder nach Beeskow und wimmelte von durchziehenden Menschen. Meistens waren es entlassene deutsche Kriegsgefangene, die zu Fuß nach Hause wollten, aber auch Flüchtlinge, die glaubten, wieder in ihre Heimat jenseits der Oder zurückkehren zu können. Tante Anni schaute immer auf die Straße, ob nicht ihr Mann unter dem zerlumpten Volk wäre, das mühsam über die Hauptstraße humpelte. Eines Tages brachte sie einen Schmied aus Ostpreußen mit, der völlig entkräftet war. Unsere Hausvermieterin, Frau Dornemann, genehmigte dann, dass Gustav Snoek und ich in die leerstehende Gesellenstube auf dem Hof einziehen durften. Dafür mussten wir beiden Männer den ganzen Tag Holz sägen und spalten. Weil das Holz so schön roch, beschloss ich, Tischler zu werden, wie mein Vater und Großvater es auch waren.
Da ich mit 15 Jahren schon zur arbeitsfähigen Bevölkerung gehörte, wurde ich als Gänsejunge beim russischen Stadtkommandanten beschäftigt. Da bekam ich wenigstens Essen. Auf der Weide hüteten andere Jungen die Pferde, und wir sind dann ohne Sattel und Zaumzeug umhergeritten... Inzwischen hatten wir nach vielen Gängen zum Rathaus auch eine Aufenthaltsgenehmigung und Lebensmittelmarken bekommen.
Tischlerlehre
Meine Mutter machte jetzt den Versuch, mir eine Lehrstelle zu besorgen, was für einen dahergelaufenen Flüchtlingsjungen nicht einfach war. Es gab in Müllrose nur eine Tischlerei, die von Otto Heinze. Der Meister hatte große Bedenken, einen Lehrling zu nehmen, da er nicht wusste, ob er die Werkstatt behalten könne. Er musste auch befürchten, dass die Maschinen ausgebaut und nach Russland gebracht werden könnten. Da er aber meinen Großvater gut gekannt hatte, der im Nachbardorf Hohenwalde Tischlermeister gewesen war, und seine Tochter mit meinem Vater früher zusammen im Mandolinenclub in Müllrose war, bekam ich die Lehrstelle doch. So begann ich im August 1945 meine Tischlerlehre. Damals gab es noch keinen elektrischen Strom in Müllrose, da die Russen gerade das Braunkohlekraftwerk Brieskow-Finkenheerd an der Oder demontiert und nach Russland geschafft hatten. So lernte ich, wie man Bretter mit der Handsäge und mit dem Handhobel bearbeitet. Als es später wieder tagsüber stundenweise Strom gab, musste ich jeden Tag einen Sarg bauen, da es wegen der schlechten Versorgung und der kaum zu bekämpfenden Krankheiten sehr viele Todesfälle gab. Die Hauptarbeit entstand durch die Reparatur eingetretener Türen, die neue Türfüllungen erhielten. Es waren auch viele aufgebrochene Schlösser zu reparieren. Auch bei den Fenstern mussten die abgefaulten Wasserschenkel erneuert werden, damit die Glasscheiben wieder hielten. Als Material hatten wir nur ausgeglühte Beschläge aus den Brandruinen oder alte Nägel, die wir gerade klopfen mussten. Da die Russen in den Wäldern Raubbau trieben und es auch viele Kriegsschäden gab, war das Holz knapp. Eine meiner ersten Aufgaben war es, zusammen mit einem Bauern eine Panzersperre vor Mixdorf auszugraben, aufzuladen und zum Sägewerk zu fahren. Das waren gewaltige Stämme, die wir mit zwei Mann und zwei Pferden mit Hilfe von Wagenhebern und Ketten bewältigt haben. Der Tischler Otto Heinze hatte für die damaligen Verhältnisse eine sehr moderne Werkstatt. 1940 waren die alten Maschinen mit Gasmotor und Transmissionsriemen abgebrannt und durch moderne ersetzt worden, die alle einen eigenen Elektromotor hatten. Inzwischen waren auch die Gesellen aus der Gefangenschaft zurückgekommen, und die Belegschaft bestand jetzt aus drei Gesellen und fünf Lehrlingen. Auch der Bruder des Meisters, Karl Heinze, der schon Rentner und von Beruf Schiffbauer war, half gelegentlich mit, besonders beim Schärfen der Sägen und Hobelmesser und beim Ausräumen der Toilette auf dem Hof, die von 16 Personen täglich benutzt wurde. Einmal bekamen wir vom Forstamt im Sommer eine Holzzuteilung in Biegenbrück zum Selberschlagen. Da mussten wir mehrere Tage lang 10 km laufen und die Birken und Kiefern mit Beil und Schrotsäge fällen. Ein Bauer hat die Stämme dann mit seinen Pferden zum Kanal gezogen, wo wir ein Floß daraus gebaut und es mit Stricken zum Sägewerk getreidelt haben. Später mussten wir dann die Bohlen und Bretter auf Pferdewagen aufladen und sie anschließend auf unserem Hof zum Trocknen aufstapeln. Unsere wöchentliche Arbeitszeit betrug 48 Stunden. Samstags arbeiteten wir bis 12 Uhr mittags. Anschließend mussten wir Lehrlinge noch etwa zwei Stunden die Werkstatt aufräumen und Brennholz sägen. Jede Woche hatte einer der Lehrlinge Feuerungsdienst. Er musste eine halbe Stunde früher in der Werkstatt sein und den Leimofen anheizen, damit der Leim warm war, wenn die Gesellen kamen. Im Winter mussten auch noch die Einsätze für den großen Späneofen gestopft und in die obere Werkstatt getragen werden. Der Maschinenraum zu ebener Erde hatte keine Heizung. Zu unseren Gesellen hatten wir ein gutes Verhältnis. Sie hatten alle drei früher beim Meister gelernt. Sie halfen uns, manchen Pfusch wieder in Ordnung zu bringen. Das war auch notwendig, denn Meister Heinze „schrieb eine gute Handschrift“, wenn er morgens die Hobelbänke entlangging. Anschließend musste ein Lehrling mit ihm runter in den Maschinenraum und beim Aufreißen und Zuschneiden der Fenster und Türen helfen. Meistens nahm er mich mit. Wahrscheinlich mochte er mich, weil ich in Küstrin zur Schule gegangen war und er in seiner Jugend in Küstrin bei den Pionieren gedient hatte. Manchmal bekam ich auch zu hören: „Höhere Töchterschule besucht, aber doofer als jeder andere!“ Einmal bekam ich eine Ohrfeige, dass ich lang über einen Bretterstapel flog, weil der Anlasser der Hobelmaschine durchgebrannt war, obwohl ich mir keiner Schuld bewusst war. Am anderen Tag sagte ihm dann der Elektriker, dass die Ursache ein eingeklemmter Ast in einer Walze war.
Oft forderten die Russen Arbeitskräfte bei den Betrieben an, und der Meister hat dann natürlich uns Lehrlinge geschickt. So haben uns im Frühjahr 1946 die Russen auf Lastwagen geladen und nach Biegen aufs Gut gefahren, wo wir mit etwa 100 Leuten mit Spaten den Acker umgraben mussten. Neben dem Stadtkommandanten gab es noch den Mühlenkommandanten, der in Schmidts Villa residierte. Er wollte unbedingt Frühbeete haben, und so mussten alle Bau- und Holzhandwerker ins Speerlager und die Tore der Hallen und die verglasten großen Fenster rausreißen und bei ihm im Garten daraus Frühbeete bauen. In den Hallen bauten die Maurer dann Bassins zum Einlegen von Gurken und grünen Tomaten. Da bekamen wir wenigstens mehrere Wochen ordentliches Essen. Auch die roten Tomaten durften wir essen, aber nichts mit nach draußen nehmen. Einmal musste ich zwei Tage und eine Nacht hintereinander mit einem Russenauto nach Frankfurt in das halb zerstörte Rathaus mitfahren und dort Getreide umschaufeln, damit es besser trocknen konnte.
Abends hatten wir noch oft Versammlungen zur politischen Umerziehung. Außerdem wurde die Gewerkschaft FDGB gegründet, in der wir alle Mitglieder werden mussten. Wer nicht Mitglied war, bekam keine Bezugscheine. So habe ich einmal einen Bezugschein für eine Hose und einmal für ein Paar Turnschuhe erhalten. Einmal habe ich mich bei der Gewerkschaft über die zu lange Arbeitszeit für uns Lehrlinge beschwert. Das gab natürlich Ärger. Aber die Ursache meiner Beschwerde wurde abgestellt. Die 48 Stunden Arbeit verteilten sich nun auf Montag bis Freitag. Am Freitag durften wir zwei Stunden vor Feierabend mit dem Aufräumen und Schneiden des Brennholzes beginnen. Dafür hat der Meister dann am Samstagvormittag mit uns Technisches Zeichnen geübt und uns über die verschiedenen Holzsorten unterrichtet. Berufsschule hatten wir erst drei Monate vor der Prüfung. Ein Lehrer unterrichtete die männlichen Lehrlinge alle in einer Klasse: Zimmerleute, Maurer, Dachdecker und Tischler. Die weiblichen Jugendlichen hatten Unterricht bei einer Lehrerin. Der Unterricht fand im Jugendheim neben dem Schützenhaus statt. Außer Rechnen und Rechtschreibung und Informationen über die neuen sozialistischen Errungenschaften haben wir dort nichts gelernt. Dann begann ich mit meinem Gesellenstück, einem doppelten Kastenfenster. Im August fuhr ich nach Fürstenwalde zur Gesellenprüfung. Es wurden meistens politische Fragen gestellt. Meister Heinze hat mich noch ein halbes Jahr als Geselle behalten. Dann hat er uns mit zwei Gesellen entlassen und Ostern wieder zwei neue Lehrlinge eingestellt.
Wir hatten inzwischen in der Frankfurter Landstraße eine eigene Wohnung mit Stube und Küche für drei Personen bekommen. Ich schlief in der Dachkammer, wo ich im Winter entsetzlich fror, da wir nur ein paar Decken hatten. Schrot für die Suppe mussten wir morgens durch die Kaffeemühle drehen und im gegenüberliegenden Wald Zweige und Tannenzapfen zum Kochen suchen. Feuerholz gab es sonst nur, wenn es irgendwo einen Waldbrand gegeben hatte. Meine Mutter nähte für Bauern, damit wir etwas zum Essen bekamen. Ich habe mir dann beim Stellmacher Lange einen Handwagen gebaut, damit wir damit nach Hohenwalde und Biegen zum Kartoffelstoppeln und Ährenlesen ziehen konnten. Unsere Wirtin hatte uns auch ein Stück Garten zur Verfügung gestellt, aber auf dem weißen Sand wuchs kaum etwas. So kam es immer zu einem Kampf um den düngenden Inhalt der Toilettengrube auf dem Hof. Auch die Pferdeäpfel auf der Straße wurden in einem Wettlauf unter den Nachbarn eifrig gesammelt. Diese Pferdeäpfel waren meistens rot, denn die Pferde bekamen fast ausschließlich rote Rüben als Futter. Hafer war zu schade für sie, der wurde mit im Brot verbacken. Fleisch gab es selten, außer Pferdefleisch, davon auf Fleischmarken sogar die doppelte Ration.
1948 kam mein Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und war nur noch Haut und Knochen. Er sollte in den letzten Kriegstagen in Prag im Lazarett am Magen operiert werden, wurde statt dessen von den sowjetischen Befreiern mit nach Russland verschleppt und musste dort zwei Jahre im Wald arbeiten. Er war nach seiner Heimkehr völlig arbeitsunfähig und wurde dann endlich in Müllrose im Krankenhaus (im ehemaligen Beamtenhaus an der Mixdorfer Straße) operiert. Danach ging es ihm wieder besser. Wir bekamen auch eine Zweizimmerwohnung bei Kanalmüller für 4 Personen, in der wir etwas mehr Platz hatten. Außerdem hatten wir dort einen Stall, in dem wir Kaninchen halten konnten. Wir nutzten auch die Gelegenheit, von gestoppelten Zuckerrüben Sirup zu kochen, wobei manche Nacht draufging. Mein Vater fertigte Holzpantoffeln und tauschte sie gegen Lebensmittel ein. Ich lief in den Sommermonaten immer in aus alten Autoreifen selbst gemachten Sandalen zur Arbeit, im Winter in Holzpantoffeln, längere Zeit auch den weiten Weg bis zur Heilstätte, die wir wieder renovierten.
Mein Bruder Jürgen hatte inzwischen auch eine Lehrstelle bei dem taubstummen Schneider Hübner erhalten, wo er sich aber nicht wohl fühlte. Sie war ihm vom Arbeitsamt zugewiesen worden, und er musste sie annehmen. Nach einem Jahr hatte er schon so viel gelernt, dass er mir aus einem eingetauschten alten Russenmantel eine wunderschöne warme Joppe für den Winter nähen konnte. Weil wir drei Männer keine Oberhemden hatten, nähte meine Mutter uns „Schmisetts“. Sie bestanden aus einem Stofflappen mit Kragen und aufgenähter Krawatte. Man sah damit beim Tanzen recht vornehm aus. Mit dem kulturellen Angebot war es in Müllrose nicht weit her. An manchen Samstagen war abends Tanz mit der Dreimannkapelle „Blitz“. Wenn in Müllrose kein Tanz war, sind wir zu Fuß die 5 bis 10 km zu den Dörfern Hohenwalde, Biegenbrück, Biegen oder Mixdorf gelaufen. Die Kapelle und deren Instrumente wurden vom jeweiligen Gastwirt per Pferdewagen abgeholt und wieder zurückgebracht. Einmal war bei Fröhlich am Markt schon am Sonntag gegen Nachmittag Tanz. Da haben uns die Russen dann mit Lastwagen weggeholt und zur Heilstätte gebracht, weil dort ein Waldbrand entstanden war, den wir mit Hilfe nasser Zweige löschen mussten. Einmal im Monat war bei Fröhlichs im Saal auch Kino. Meistens wurden russische Filme mit deutschen Untertiteln gezeigt. Besonders spannend war immer der Maskenball zu Silvester bei Lamms an der Schlaubebrücke, wenn um 24 Uhr die Masken abgenommen werden mussten. Schön waren auch die Tanzabende im Schützenhaus, obwohl es dort sehr eng war. Einige Bauernjungs brachten dorthin ihren selbstgebrannten Rübenschnaps mit und verteilten Kostproben. Wenn der Polizist zur Ausweiskontrolle kam, hüpften die jüngeren Jugendlichen schnell aus dem Fenster, denn es waren vorsorglich immer Wachen aufgestellt. Einige Jungs hatten mit gefundener Munition gespielt, wurden verraten und mussten zur Umerziehung für mehrere Jahre nach Russland. Am 1. Mai mussten wir jedes Jahr auf dem Marktplatz antreten und lange antifaschistische Reden anhören, aber den Nachmittag hatten wir wenigstens zur freien Verfügung...
Nach meiner Kündigung durch den Lehrherrn ergab eine Anfrage beim Arbeitsamt, dass in Müllrose keine Arbeit zu bekommen war, ich deshalb nach Aue im Erzgebirge in den Uranbergbau sollte. Daraufhin beschlossen mein Freund Edgar Witzke und ich, dass wir in den Westen gehen wollten. Meine Mutter war von meinem Plan begeistert, weil ihr eine Wahrsagerin prophezeit hatte, dass sie einen ihrer Söhne verlieren werde und sie Angst hatte, die Russen könnten mich eines Tages abholen. Mein Vater tobte: „Jetzt, wo du uns ernähren kannst, haust du ab. Aber verlaust und verdreckt wirst du eines Tages wieder nach Hause kommen.“ Da mein Freund Edgar noch einige Wochen auf seine Gesellenprüfung als Zimmerer warten musste, meldete ich mich polizeilich zu meinem Onkel Fritz nach Kotzen bei Rathenow ab, habe mich dort aber nie wieder angemeldet. Kotzen war ein größeres Gutsdorf. Das Gut war in Siedlerstellen für Flüchtlinge mit je 20 Morgen Land aufgeteilt worden. Onkel Fritz und Tante Trudchen sowie Onkel Hermann und Tante Alma hatten je eine solche Siedlerstelle bekommen und wohnten mit anderen Familien zusammen in den großen Zimmern des nach dem 30jährigen Krieg erbauten Schlosses. Zur Bestellung der Felder hatten Onkel Fritz seinen Ochsen Anton und Onkel Hermann ein Pferd zugeteilt bekommen. Zum Pflügen wurden beide zusammengespannt. Später wurde das Schloss abgerissen, weil nichts mehr an die Junkerherrschaft erinnern sollte. Onkel Fritz baute sich im riesigen Pferdestall eine Wohnung aus und benutzte die übrigen Gebäudeteile als Stallungen und Scheune. Onkel Hermann riss die alte aus Lehm gestampfte Gutsscheune zur Hälfte ein und baute aus alten Ziegeln, Fenstern und Türen des Gutshauses ein Einfamilienhaus und einen Stall für Pferd, Kuh und Schweine. Mein Vater und ich waren öfter im Urlaub hingefahren, um beim Bau zu helfen. Dort hatte es wenigstens immer satt zu essen gegeben. Der gute Lehmboden lieferte bessere Erträge als der Sand in Müllrose. So half ich denn auch jetzt etwa vier Wochen lang dem Onkel Fritz bei den schweren Arbeiten, denn er war damals auch schon 63 Jahre alt. Er bot mir an, mir seine Siedlung zu vererben, verkaufen durfte er sie nicht. Doch ich lehnte ab, weil wir beide darauf nicht existieren konnten und ich ja auch andere Pläne hatte und etwas von der Welt sehen wollte. Einmal fuhr er mit dem Rad nach Neunhausen und trug mir auf, Anton anzuspannen und zum Kartoffelacker zu fahren, wohin er eine Frau bestellt hatte, die den Anton beim Anhäufeln führen sollte. Da er sehr spät zurückkam, hatte ich zusammen mit der Frau bereits angefangen, die Kartoffeln anzuhäufeln. Er staunte, dass der halbe Acker schon fertig war, wenn auch die Furchen nicht seinen Vorstellungen eines pommerschen Feldwebels entsprachen. Einige Jahre später haben Onkel Fritz und Tante Trudchen heimlich ihr Haus verlassen, um nach Westberlin zu flüchten, da sie aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit nicht mehr schaffen konnten. Er hat dann eine gute Beamtenpension bekommen.
Go west
Inzwischen war auch mein Freund Edgar eingetroffen, und wir kauften die Fahrkarten nach Oebisfelde. Bis ganz an die Grenze konnten wir nicht fahren, weil dort die Bahnhöfe streng kontrolliert wurden. So stiegen wir eine Station vorher aus. Wir haben dann mit unseren Rucksäcken nachts den Weg zu Fuß gemacht und die Grenze erreicht, die damals noch von Russen mit Hunden kontrolliert wurde. Eine Grenzlinie war nicht zu erkennen, aber wir gingen immer in Richtung Westen. Als wir meinten, weit genug von der Grenze entfernt zu sein, legten wir uns übermüdet in eine Roggenstiege und schliefen. Anschließend fragten wir einen Mann, wo es zum Bahnhof gehe. Wir waren erleichtert, als er uns bestätigte, dass wir im Westen seien. Wir kauften uns eine Fahrkarte nach Hannover und wollten weiter zu meiner Cousine Ursel nach Hessisch Oldendorf. Dort schliefen wir eine Nacht auf dem Fußboden in der Küche, da sie zusammen mit ihrem Mann auch nur in einer kleinen Wohnung der Schwiegermutter lebte. Ihr Mann Alfred, der bei der Stadtverwaltung tätig war, klärte uns über die nötigen Formalitäten auf. Uns beim Durchgangslager Uelzen zu melden, habe keinen Zweck, da dort alles überfüllt sei und Niedersachsen keine Flüchtlinge mehr aufnähme. Bessere Aussichten hätten wir in Wipperfürth, da im Rheinland bessere Arbeitsbedingungen gegeben seien. Auf dem Wege dorthin wollten wir noch in Warendorf Tante Else, eine Cousine meiner Mutter, und Onkel Adolf besuchen. Sie waren bei einem Bauern untergekommen. Onkel Adolf, früher Hauptmann bei der berittenen Polizei, schlief in der Knechtekammer auf der Diele über dem Pferdestall. Tante Else hatte ein Bett in der Mägdekammer. Da die Polizei ihn nicht wieder einstellen wollte, ging er vorzeitig in Pension. Nachdem wir mit Butterbroten und etwas Fahrgeld versehen worden waren, fuhren wir am nächsten Tag nach Wipperfürth. Unterwegs musste ich im Zug wohl eingeschlafen sein. Jedenfalls war meine Brieftasche aus der Joppe weg! Anständigerweise hatte der Dieb meinen Gesellenbrief zu meinen Eltern nach Müllrose geschickt. Im Lager Wipperfürth wurden wir registriert und bekamen einen Westausweis. Wir schliefen in einem großen Saal auf Strohsäcken. Wenn wir zu Behörden mussten, hat immer einer von uns auf die Rucksäcke aufgepasst, die wir nachts unter dem Kopf hatten. Auf dem Arbeitsamt sah es für Handwerker schlecht aus. So blieb nur die Arbeit in der Landwirtschaft. Nach zwei Tagen nahmen wir dann eine angebotene Stelle bei einem Bauern in Oberdrees bei Rheinbach im Bonner Raum an. Wir waren enttäuscht, dass Rheinbach so weit vom Rhein weg war.
Bauernknecht
Am 13. Mai 1949 kamen wir auf dem Bahnhof in Rheinbach an und liefen mit unserem Rucksack nach Oberdrees, wo ich mich auf dem Bauernhof K... meldete. Meine Unterkunft war eine unbeheizte Kammer über dem Schweinestall. Das Mobiliar bestand aus einem Bett, einem Schrank und einer alten Treckerbank. Gewaschen habe ich mich unter dem kalten Wasserahn in der Waschküche. Samstags wurde im Schweinestall eine Holzwanne aufgestellt, ein Kessel Wasser heiß gemacht, und man konnte zu einer festgesetzten Zeit baden. Frau K... war Witwe. Ihr Mann war in den letzten Kriegstagen mit dem Trecker auf eine Miene gefahren. Ihr Sohn Joseph war etwas jünger als ich und spielte den Chef. Außerdem waren noch die beiden Töchter im Hause. Die ältere Tochter war Kriegerwitwe und hatte ihren Hof in der Altmark verloren, die jüngere war mit einem Gutsbesitzer aus dem Nachbardorf befreundet und hoffte, dass er sie heirate. Zur „Herrschaft“ gehörte auch noch ein entlassener Soldat aus Ostpreußen. Sein Vater war früher Hotelbesitzer gewesen, und er hatte während des Krieges dort im Quartier gelegen. Die Herrschaft aß die Mahlzeiten im Wohnzimmer und wenn abgeräumt wurde, bekamen wir, Anna und ich, manchmal auch noch Arbeiter aus dem Dorf in der Küche unser Essen. Anna war Flüchtling aus Schlesien und hatte einen fünfjährigen Jungen, der von einem Russen stammte. Ich hatte morgens die vier Pferde zu putzen und zu füttern. Es waren schwere Belgier, die hart arbeiten mussten, besonders beim Pflügen auf dem schweren Lehmboden. Anschließend gab es Frühstück. Nach dem Frühstück fuhren wir auf die Felder, um Futter für die Kühe zu holen. Die Felder lagen sehr weit auseinander, da Frau Kleefuß mehrere Hektar mit in die Ehe gebracht hatte. Die Kühe standen das ganze Jahr über im Stall, und das Jungvieh lief auf dem Misthaufen herum und wurde dort gefüttert. Es gab einen leichten Trecker, der aber nur zum Mähen des Futters gebraucht wurde. Das Gemenge, Klee und Seradella, mussten wir zusammenharken und auf einen einachsigen Wagen laden, der auf dem Hof abgekippt wurde. Wenig begeistert war ich von der Arbeit des Rübenverziehens. Es wurde mit der Hacke vorgearbeitet und dann auf den mit alten Säcken umwickelten Knien verzogen und nur eine Rübenpflanze stehen gelassen.
Sonntags gingen Edgar und ich zu Fuß nach Rheinbach zur Kirche. Die evangelische Kirchengemeinde war mit ihren Gottesdiensten in einer kleinen Klosterkapelle zu Gast. Inzwischen hatten wir uns aus alten Teilen ein Fahrrad zusammengebaut und beschlossen, an den Rhein zu fahren. Wir landeten in Remagen, wo mehrere Rheinschiffe am Ufer lagen und auf Schleppdampfer warteten. Ich fragte einen Schiffer, ob er nicht einen Matrosen gebrauchen könne. Er sagte ja, aber dann müsse ich spätestens in zwei Tagen anfangen, weil dann der Dampfer käme. Auch für Edgar war auf dem Nachbarschiff eine Stelle frei geworden, und wir fuhren glücklich nach Oberdrees zurück. Als ich kündigte, gab es mit Jupp Kleefuß eine handgreifliche Auseinandersetzung, die seine Mutter aber dann schlichtete. Ich nahm Abschied von meiner Kammer mit den russischen und polnischen Beschriftungen an der Holzwand und schrieb an einer freien Stelle das Goethe-Zitat hinzu: „Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht, wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht.“ Dann fuhren wir mit dem Bus nach Remagen, weil Jupp mir das Rad weggenommen hatte.
Rheinschiffer
Mein Schiff hieß „Helene“, war etwa 70 Jahre alt und konnte 1.200 Tonnen laden. Da es mehrere Helenen gab, musste der Heimathafen Altrip, ein kleines Dorf am Oberrhein, hinzugefügt werden. Es gehörte einem Reeder in Gernsheim, der es von seiner Mutter Helene geerbt hatte. Diese Schiffseigner nannte man im Gegensatz zu den großen Reedereien mit mehreren Schiffen Partikuliere. Im hinteren Teil des Schleppkahns wohnte Schiffmann Otto Müßig aus Hasmersheim am Neckar mit seiner Frau, und vorne wohnte ich zusammen mit dem Matrosen Wilhelm Trunk aus Bad Dürkheim, wo auch seine Familie lebte. Die Arbeit war sehr vielseitig, und ich habe viel Neues hinzugelernt. Wir kochten beide immer wöchentlich abwechselnd. Ich wurde wegen der Größe des Schiffes zwar als Matrose geführt, bekam aber nur den Lohn eines Schiffsjungen. Die erste Zeit gab es noch Lebensmittelmarken, aber bald konnte man alles frei kaufen – wenn man Geld genug hatte. Ich war ein Jahr auf der „Helene“ und bin siebenmal den Rhein rauf und runter gefahren und interessierte mich für alle Städte und Burgen, die ich vom Schiff aus sah. Wir haben in Duisburg oder manchmal auch in einem Kanalhafen Kohle geladen. Öfter mussten wir wegen der niedrigen Brücken das Steuerhaus abbauen. Es waren schlechte Zeiten für die Schiffer, und wir haben oft drei Wochen auf Ladung gewartet. Dann wurden wir von einem kleinen Hafendampfer auf den Rhein geschleppt und haben dort Anker geworfen, bis genügend Schiffe für einen Schleppzug beisammen waren. Es kam dann der Raddampfer vorbei und gab jedem Schiff ein Schleppseil, das an den vorderen Pollern festgemacht wurde. Wenn der Dampfer dreimal tutete, ging die Fahrt los, und wir mussten den Anker hochwinden. Nachts ruhte der Verkehr auf dem Rhein. Tagsüber musste ich entweder steuern, anstreichen oder zusammen mit dem Matrosen mit Hilfe eines Eimers an einer Leine und eines Schrubbers das Deck waschen. Ich lernte Backbord und Steuerbord zu unterscheiden, in Steuerbord ist ein r enthalten, also rechts in Fahrtrichtung mit grünem Licht. Außerdem war der Schlager populär: „Das rote Licht an Backbord ist die Liebe, das grüne Licht an Steuerbord das Glück“ So ging die Fahrt bis St. Goar, wo wegen der Hungersteine im Fahrwasser ein Lotse an Bord kommen musste. Er fuhr bis Kaub mit, wo durch das Binger Loch ein anderer Lotse an Bord kam. Dabei erfuhren wir immer Neuigkeiten, da wir an Bord weder Zeitungen noch Radio hatten. Es waren 1949 und 1950 sehr heiße Sommer und der Rhein führte wenig Wasser, so dass wir das Schiff nicht voll beladen konnten. Normalerweise hat der Rhein auf 100 m einen Meter Gefälle. Im Binger Loch beträgt das Gefälle jedoch auf zehn Meter einen Meter. Da wurde der Schleppzug aus etwa sechs Schiffen geteilt, oder wir bekamen einen zweiten Dampfer als Vorspann. In die zwei Felsbarrieren beim Mäuseturm am Binger Loch hat man für die Bergfahrt zwei Löcher von 10 m Breite gesprengt. Die Talfahrt ging nebenan durch das „Neue Fahrwasser“, wegen der besseren Steuerungsmöglichkeit immer mit vier Schiffen gleichzeitig, jeweils zwei parallel aneinander vertäut. Einmal hatte sich das Schiff vor uns losgerissen, weil sich ein Seil in unsichtbaren Brückentrümmern verfangen hatte. Unser Kahn bekam am Bug eine Beule und musste für mehrere Wochen in eine Werft. Im Winter hatten wir immer genug Kohle zum Brennen an Bord. Manchmal tauschten wir auch welche bei Winzern gegen Wein ein. Neujahr lagen wir in Gernsheim, und ein Matrose von einem anderen Schiff unseres Reeders nahm mich mit zu sich nach Hause. Dort gab es Wellwurst und jungen Wein, dessen Wirkung ich noch nicht kannte. Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie ich die schmale Planke ohne Geländer wieder heil an Bord gekommen bin. Da wir wegen des Eisgangs nicht fahren konnten, musste ich draußen bei 10° Kälte Rost klopfen. Ich lebte sehr sparsam und wollte mir endlich meinen ersten Anzug kaufen. Da das Geld aber nicht reichte, gab mir der Schiffsmann einen Vorschuss, den ersten in meinem Leben. Ich hatte zeitweilig auch einen Hund zu versorgen, der mir zugelaufen war, aber eines Tages auch wieder verschwand. Bei einem Gespräch mit dem Schiffer eines in Duisburg neben unserem liegenden Schiffes bot der mir höheren Lohn an. Der Schiffer der Helene meinte, ich müsse erst noch die Reise bis Ludwigshafen mitmachen, weil er so schnell keinen Ersatz bekomme. Von Ludwigshafen aus bin ich dann mit dem Zug nach Duisburg zurückgefahren und musste auch noch für meinen Hund den halben Fahrpreis entrichten. Dort sagte mir dann jedoch der Schiffer, dass er mich nun so schnell doch noch nicht gebrauchen könne. Da stand ich nun ohne Wohnung und ohne Arbeit. Einige Nächte kam ich bei Verwandten eines Matrosen auf dem Sofa in der Küche unter. Dann lernte ich einen Matrosen kennen, der beschlagnahmte belgische Schiffe in einem abgelegenen Hafenbecken bewachte. Der bot mir an, dass ich auf einem dieser Schiffe übernachten könne, wenn ich ihm etwas bei seiner Arbeit hülfe. Ich ging jeden Tag zum Arbeitsamt und fragte nach einer freien Stelle.
Eines Tages hatte ich Glück und konnte auf dem Hafendampfer „Luise“ von Ruhrort anfangen, einem schon reichlich betagten Schiff von etwa 80 Jahren. Es gehörte dem Reeder Hermann Kawater. Der stand den ganzen Tag zusammen mit anderen Reedern vor dem Haus des Schifferbetriebsverbandes und wartete auf eine Schleppfahrt. Vorne im Schiff war die Kapitänskajüte des Kapitäns Laux. Er benutzte sie aber nur zur Mittagsruhe, da er nachts zu Hause schlief und jeden Morgen mit dicker Aktentasche an Bord kam. In der Tasche hatte er sein Kochgeschirr und die Brote für den Tag. Man nannte diese Sorte Schiffsführer immer etwas herablassend „Henkelmannkapitäne“. Ansonsten saß er fast den ganzen Tag zusammen mit anderen Kapitänen in einem der Steuerhäuser und diskutierte. Wir beide hatten öfter Meinungsverschiedenheiten, da mir sein herablassender Kommisston nicht gefiel. Mit dem Maschinisten Grundmann verstand ich mich gut. Er war früher auf großen Dampfern in der ganzen Welt herumgekommen und konnte spannend erzählen. Er wohnte außerhalb von Duisburg und kam jeden Tag mit einem Moped zur Arbeit. Am Markttag hatte er einen Anhänger mit Gemüse dahinter und brachte auch seine Frau mit, denn sie hatten zu Hause eine Gärtnerei. Der Maschinist erklärte mir die vielen Leitungen und Ventile, und einmal haben wir eine Nacht lang die ganze Dampfmaschine auseinandergenommen, weil ein Lager erneuert werden sollte. Am nächsten Tage musste das Schiff ja wieder fahrbereit sein. Meine Aufgabe war es, die Kohle zu beiden Seiten des Kessels vorzuholen und ins Feuerloch zu werfen, damit immer genug Dampf vorhanden war. Eine Toilette gab es auf der Luise nicht. Das Geschäft wurde auf der Kohlenschippe erledigt und dann ins Feuer geworfen. Wenn wir im Hafen lagen, musste ich das Schiff mit Schrubber und Wassereimer waschen oder mit Teer oder Farbe streichen. Wenn wir schleppten, musste ich die Schleppseile einhängen, beim Steuern helfen und vor den Brücken den Schornstein schnell umlegen und anschließend wieder hochziehen, damit nicht zu viel Rauch ins Steuerhaus kam. Viel zu fahren gab es in den ersten Nachkriegsjahren nicht, gelegentlich mal ein Kiesschiff von der anderen Rheinseite oder ein Kohleschiff aus den Rheinhäfen. Unseren größten Auftrag hatten wir in Wesel, wo wir den Engländern beim Manöver halfen, als sie eine Pontonbrücke über den Rhein bauten. Als an einem Sonntag die Arbeit ruhte, packte mich die Abenteuerlust, und ich bin über den Rhein geschwommen, der hier bei Wesel ziemlich breit war und eine starke Strömung hatte. Bei Mainz hatte ich den Rhein schon einmal schwimmend überquert. Die Abende alleine an Bord waren ziemlich öde für mich. Ich bin dann manchmal nach Duisburg gelaufen und habe mir Schaufenster angesehen und mir ein Bier getrunken.
Auf der Walz
Nachdem ich ein Jahr lang den Rhein kennen gelernt hatte, interessierte mich auch die Nordsee. Ich wusste allerdings nicht, dass es mit Arbeit in Niedersachsen und Schleswig-Holstein wegen der vielen Flüchtlinge viel schlechter aussah, als im Ruhrgebiet.
So kaufte ich mir für 20 DM ein gebrauchtes Fahrrad und fuhr in Richtung Norden los, pro Tag etwa 20 km. Nach einigen Tagen war der Hinterradreifen hinüber. Ich wog ja nicht viel, aber der schwere Rücksack drückte hinten auf das Rad. Geld hatte ich nicht, aber noch eine Büchse Kakao, die mir ein englischer Soldat während unseres Manövereinsatzes in Wesel geschenkt hatte. In jedem Ort zeigte ich bei den Tischlern meinen Gesellenbrief vor und fragte nach, ob sie Arbeit für mich hätten.
Wenn sie keine Arbeit hatten, bat ich um eine Scheibe Brot und ein Zehrgeld, wie es Handwerksbrauch war. Meistens bekam ich eine oder zwei Mark. Nachts schlief ich in Roggenstiegen, denn es war ein warmer Sommer, oder auch mal in einem Spritzenhaus, wo immer einige Pritschen vorhanden waren. So kam ich bis Cuxhaven, wo ich in der Jugendherberge Unterkunft fand, die damals in der Festung Kugelbake untergebracht war. Ich besuchte dann meine Cousine Gerlinde Arndt, die inzwischen von Berlin nach Cuxhaven umgezogen war und hier den Segelmacher Herbert Blohm geheiratet hatte. Durch die Heirat und wegen ihrer Tochter Ingrid hatten sie eine klitzekleine Neubauwohnung erhalten, denn Cuxhaven war als ehemaliger Hauptmarinestützpunkt größtenteils zerstört gewesen. Auch im Hafen sah es traurig aus, da die Schiffe entweder versenkt oder an die Engländer abgeliefert worden waren und die Werften nur die nötigsten Reparaturen durchführen durften. Für alles mussten die Engländer ihre Genehmigung erteilen. Gerlinde begleitete mich noch zur Elbfähre nach Brunsbüttel und schenkte mir das Fahrgeld. Auf der anderen Elbseite fuhr ich mit der Kanalfähre über den Nordostseekanal, von dem wir im Erdkundeunterricht einen Film gesehen hatten, in dem mich besonders die 30 m hohe Eisenbahnhochbrücke bei Rendsburg mit ihrer Schleife beeindruckt hatte. In einem Ort gefiel mir ein Kriegerdenkmal auf dem Markt mit dem Spruch: „Wanderer, der du hier verweilst, falte still die Hände, denke, eh du weitereilst, einmal an dein Ende. Suchst du eigenen Gewinn, wirst du rastlos wandern. Diese gaben alles hin für die Not der Andern.“ Auch vom Freiheitskampf der Dittmarscher Bauern gegen die Eiserne Garde des Erzbischofs von Bremen hatten wir im Geschichtsunterricht gehört, und so besuchte ich die „Dusenddüwelswarft“. So kam ich bis Heide, wo eine Schwester und die Mutter meiner Tante in Hohenwalde wohnten, die ich schon in Müllrose kennen gelernt hatte. Dort machten wir mit den Fahrrädern Ausflüge zu den Kögen im Wattenmeer und zum Großsteingrab in Albersdorf, von denen ich schon im Erdkundeunterricht gehört hatte. In Friedrichsstadt, einer freundlichen Holländersiedlung, hatte es mir die Pumpe auf dem Marktplatz angetan, die auf jeder Seite einen Spruch trug. In Erinnerung geblieben ist mir: „Drink all dag Water und holt sik rin, so ward sik de Engeln in Himmel frien.“ Dann fuhr ich weiter nach Husum, wo ich mich für Theodor Storm und das Nissenmuseum, das ein reich gewordener Auswanderer seiner Heimatstadt gestiftet hatte, interessierte. Von Husum radelte ich nach Flensburg an die Ostsee und fand eine schöne, völlig unzerstörte Stadt. Hier war der Krieg mit der Kapitulation durch Dönitz zu Ende gegangen. Ich fuhr wieder in Richtung Süden und kam nach Rendsburg, wo es mir das Lornsen-Denkmal antat, das nach dem deutsch-dänischen Krieg 1864 errichtet worden war. Als Küstriner Schüler hatten wir viel von Pionier Klinke gehört, der sich bei der Erstürmung der Düppeler Schanzen selber mit dem Pulver in die Luft gesprengt hatte, weil man vergessen hatte, eine Lunte mitzunehmen. Jetzt musste ich wieder über den Kaiser-Wilhelm-Kanal und benutzte dazu die Hängefähre unter der Eisenbahnbrücke. Bis auf den heutigen Tag sind alle Kanalfähren kostenlos zu passieren, weil der Kanal bei seiner Erbauung die bestehenden alten Straßenverbindungen durchtrennt hatte. So landete ich schließlich in Hamburg. Aber die Stadt war damals noch ein einziger Trümmerhaufen. Die dortige Jugendherberge war ein Dreckstall. Als ich mich beim Herbergsvater darüber beklagte, entgegnete er mir, ich solle mich an die Stadtverwaltung wenden, die zögere einen geplanten Neubau seit Jahren hinaus. Hamburg hielt mich nicht lange. Ich fuhr weiter südwärts nach Hannover. Unterwegs lernte ich einen Kumpel kennen, der mir zeigen wollte, wie man schneller vorankommt, indem man sich an die damals noch recht langsam fahrenden Lastautos anhängt. Nach etwa zwei Stunden hatte ich ihn überholt, weil sich inzwischen die Polizei mit ihm unterhielt. Hannover war auch schwer zerstört und gefiel mir auch nicht. So kam jetzt der für mich schwierigste Teil meiner Wegstrecke über den Deister, wo ich mein Rad viele Kilometer bergan schieben musste. Bis nach Springe ging es dann wieder bergab, und dann kam kurz vor Altenhagen noch mal ein kleiner Berg. Ich schob mein Rad durch das Dorf Altenhagen I, das am Hang des Kleinen Deisters lag und suchte nach Tischlereien.
Wieder sesshaft
Ich wollte wieder meinen Spruch aufsagen, als Tischlermeister H. P. mir entgegnete, er wolle noch einen Gesellen einstellen. Einige Wochen schlief ich über der Werkstatt im Stroh und ging dem Bürgermeister wegen eines Zimmers laufend auf die Nerven. Eines Tages erhielt ich ein kleines Dachzimmer bei Familie Hölscher in der Siedlung außerhalb des Dorfes für 10 DM Miete monatlich. Die Siedlung war zwar der Wasserleitung angeschlossen, aber der Druck reichte selten. Ich begann, meinen Hausstand einzurichten. Von der Gemeinde bekam ich ein Bettgestell und einen Strohsack. Vom Kaufmann erbettelte ich zwei leere Marmeladeneimer, einen für Trink-, den anderen für Schmutzwasser. Nach der Arbeit ging ich an den Bach, der vom Katzberg herunterkam, schöpfte mit einer Konservendose Wasser und goss es durch ein Tuch in meinen Eimer, damit nicht zu viele Wassertierchen in meinen Haushalt kamen. Ich kaufte mir zwei billige Wolldecken, nähte sie zusammen und stopfte sie mit Hobelspänen zu einer wärmenden Zudecke, die natürlich mächtig staubte. Mein Stundenlohn war nach „Haustarif“ festgesetzt und belief sich auf 72 Pfennig, weniger als der Lohn einer Fabrikarbeiterin, die in den Stuhlfabriken 75 Pf bekamen. Mittagessen erhielt ich bei der Mutter und Schwester des Meisters, die einen gemeinsamen Haushalt führten. Dafür ging schon über die Hälfte meines Verdienstes weg. Die Tochter meiner Wirtsleute wollte heiraten und versuchte, mein Zimmer für sich frei zu bekommen. Sie wollte mir allerhand „gute Partien“ unter den Dorfschönheiten schmackhaft machen, teilweise mit der Aussicht, später ein Haus erben zu können. Aber die Damen arbeiteten alle in den Forstpflanzungen des Nesselberges und hatten keinerlei geistige Interessen. Vater Hölscher hatte es tatsächlich geschafft, mir ein neues Zimmer im Dorf zu besorgen. So zog ich zur Familie Ernst in eine neue Bleibe von stolzen 6 m² mit Steinfußboden. Mein Wasser musste ich aus einem unterirdischen Kellerbrunnen vom Nesselberg her holen. Es war wenigstens sauber. Die Miete betrug ebenfalls 10 DM monatlich. Die Zahlung wurde in einem Heft quittiert. Da ich mir inzwischen ein kleines Radio angeschafft hatte, musste ich noch 2 DM Stromgeld extra zahlen. An den Sonntagen fuhr ich mit dem Fahrrad zum Saupark nach Springe, nach Hameln an die Weser oder zu meiner Cousine nach Hessisch-Oldendorf. Nicht weit entfernt waren auch Bad Münder und der Süntelturm. Es war gerade die Zeit, als auf einer Kuhweide die Romelquelle entstanden war und munter sprudelte. So fuhr ich jeden Tag nach der Arbeit mit dem Rad und mehreren Flaschen die Feldwege über den Katzberg nach Bad Münder und holte „Heilwasser“ für mich und die Verwandtschaft des Meisters. Niemand wusste jedoch genau, wofür oder wogegen es half. Ich erfuhr auch, dass aus dem Sandstein des Nesselberges das Leineschloss in Hannover und die Reichskanzlei in Berlin erbaut worden waren. Durch den Wiederaufbau waren damals noch mehreren Steinbrüche in Betrieb, und ein reger Verkehr ging durch die engen und winkeligen Dorfstraßen. Die Tischlerei Püster stellte mit 7 Mann Belegschaft runde, mit Eiche furnierte Ausziehtische her, ein beliebtes Möbelstück bei den damals überall noch engen Wohnverhältnissen. Wir belieferten damit einen im Nachbardorf Hachmühle tätigen Großhändler. Ich musste tagelang nur Tischbeine oder Tischplatten oder runde Zargen mit Eiche furnieren, eine geisttötende Arbeit. Nachdem ich den Meister mehrmals vergeblich um Lohnerhöhung gebeten hatte, trat ich der Gewerkschaft bei und bekam dann auch meinen Tariflohn von 84 Pf. Nun stand ich aber auch auf der Abschussliste...
Unsere Ausziehtische hatten ein kompliziertes Innenleben mit viel Handarbeit. Da kam ich auf die Idee, die Sache mit Hilfe einer Lehre und der kleinen Handfräse zu vereinfachen. Ich suchte mir ein passendes Eichenbrett und wollte an der großen Fräse die Führung einfräsen. Aber der Fräskopf war stumpf, traf auf einen Ast, und das Brett schlug zurück. Für den Zeigefinger meiner linken Hand war er aber noch scharf genug. Der Meister fuhr mich mit dem Auto zum Friederiken-Stift nach Bad Münder, wo zufällig der Chefarzt, Prof. Dr. Edelmann, mit seinen Assistenten zur Visite weilte. Er hat sofort meinen linken Zeigefinger bei örtlicher Betäubung amputiert und den Lappen an den nächsten Finger angenäht, so dass kein Stumpf, wie sonst üblich, zurückblieb. Ich hatte mich schon für eine längere Zeit im Krankenhaus eingerichtet, wurde aber schon am zweiten Tag nach Hause geschickt und musste täglich zum Verbinden nach Bad Münder fahren. Als alles verheilt war, bekam ich Massagen, so dass bis auf die Narben und die Stoß- und Kälteempfindlichkeit alles noch einmal gut gegangen war. Als ich wieder gesund geschrieben wurde, hatte ich beim Drehen der Schraubzwingen noch starke Schmerzen. Einige Wochen später hat mich Meister P.dann wegen Arbeitsmangel gekündigt.
Ich musste nach Springe zum Arbeitsamt, bekam eine Stempelkarte und musste zweimal wöchentlich die 5 km nach Springe fahren, mich in die Schlange der Wartenden stellen und den Stempel eintragen lassen, sonst bekam ich kein Geld. Manchmal gab es sogar kurzfristige Arbeit. So hatte eine Firma den Auftrag, die Kanalisation von der neu gebauten Gewerkschaftsschule zur Stadt Springe zu legen und suchte für mehrere Wochen Arbeiter. Das Ausheben der Gräben war in dem harten Lehmboden schwere Knochenarbeit, denn Maschinen dafür gab es damals noch nicht. Dann mussten die schweren Betonrohre mit Flaschenzügen eingelagert und mit Teerstricken und Zement zusammengefügt werden. Nach Abschluss der Arbeiten wurden wir wieder entlassen. Ich bekam noch mal eine Arbeit bei einem Tischler in Springe, wo wir mit zwei Gesellen Stühle produzierten. Wenn vier Stühle fertig waren, setzte sich der Meister damit in den Zug und brachte sie zu einem Händler nach Hannover. Geld haben wir aber erst viele Tage später gesehen. Ich meldete mich wieder beim Arbeitsamt. Zufällig fand in der Heimvolkshochschule Springe ein Kursus für 40 arbeitslose Holzarbeiter aus ganz Niedersachsen statt, zu dem ich mich anmeldete. Es war inzwischen Winter geworden, und wir konnten dort wohnen und wurden verpflegt. Die Schule lag hoch über der Stadt im Deister. Sie wurde von zwei jüdischen Studienräten geleitet, die aus der sozialistischen Arbeiterjugend kamen und Nazizeit und Krieg überstanden hatten, Frau Blenke als Emigrantin in Amerika, Herr Hampe beim Wetterdienst der Wehrmacht. Wir hatten mehrere Betriebsbesichtigungen und frischten das notwendige Grundschulwissen auf, wobei auch die aktuelle Politik nicht zu kurz kam. So vergingen die vier Wochen, und ich meldete mich wieder beim Arbeitsamt. Ich schrieb einen Brief an den Neffen meines Meisters, der in Bergen bei Celle als Vorarbeiter in einer großen Bautischlerei tätig war und fragte nach Arbeit. Er antwortete mir, dass ich kommen und auch bei seiner Familie wohnen könne. Dort wurde im Akkord gearbeitet, aber auch gutes Geld verdient. Anstrengend war der Weg zur Arbeit von Wesen bei Hermannsburg nach Bergen, etwa 15 km. Oft waren wir auch wochenlang auf den Baustellen in Hannover und Hamburg und haben Fenster und Türen eingesetzt. Da mussten wir uns einen Raum mit verschließbarer Tür einrichten und bekamen eine Schütte Stroh in die Ecke, wo wir schlafen konnten. Am Samstag hat uns der Meister mit dem Auto wieder abgeholt. Acht Tage vor Weihnachten wurden wir beiden Ledigen plötzlich entlassen, weil die Aufträge erledigt waren. Es gab auch kein Weihnachtsgeld für uns, damals noch keine tarifliche Pflichtleistung. Ich reiste wieder zurück in mein Zimmer nach Altenhagen. Zum Heizen meines eisernen Kanonenofens fuhr ich in den Wald und sammelte trockene Zweige, die ich auf dem Fahrradgepäckträger transportierte. Verbotenerweise hatte ich ein Beil bei mir, das mir der Förster abnahm, obwohl ich bei der Gemeindeverwaltung einen Holzleseschein gekauft hatte. Langeweile hatte ich in den Wochen meiner Arbeitslosigkeit nicht, denn ich holte mir viele Bücher aus der Stadtbibliothek in Springe und nahm auch an einem Fachkursus für technisches Zeichnen in Bad Münder teil. Ich fuhr mit dem Rad nach Hildesheim, wo gerade wieder der Dom aufgebaut wurde. Jeder vorhandene Stein war genau nummeriert worden, und der 1000jährige Rosenstock kam auch wieder aus den Trümmern hervor. Einen Sonntag fuhr ich zum Flüchtlingstreffen nach Hannover und habe viele Gnesener wiedergesehen, die größtenteils in der Heide gelandet waren. Ich bekam auch viele Adressen von früheren Schulkameraden. Für Mädchen habe ich mich wenig interessiert, weil sie alle irgendwelche Ziele verfolgten. Einige wollten gerne heiraten, weil sie damit ihre Kinder von den Pflegeeltern zurückbekamen. Eine junge Dame, die ich Springe beim Mittagstisch kennen lernte, sagte zu mir, sie suche einen Freund mit Motorrad, damit sie mal in die Umgebung käme, Rad fahren könne sie alleine.
Eines Tages verspürte ich mal wieder Fernweh und sattelte meinen Drahtesel. Es sollte nach Bremen gehen, das ich noch nicht kannte. Die Stadt war schwer zerstört, aber schon wieder gut aufgeräumt. Ich suchte mir eine Unterkunft in der Jugendherberge, die damals auf dem Segelschulschiff DEUTSCHLAND im Europahafen untergebracht war. Ich sah, dass an Bord viele Leute rumwerkelten, einige auch in richtigen Matrosenanzügen, wie ich sie als kleiner Junge getragen hatte. Ich fragte dann Kapitän Hattendorf, ob er mich nicht auch als Schiffszimmermann gebrauchen könne. Er meinte dann, dass es wohl etwas zu hoch gegriffen sei, aber als Schiffsjunge könne ich anfangen. So ging ich zum Amtsarzt, machte die nötigen Untersuchungen durch und holte mir vom Seemannsamt mein Seefahrtbuch. Soweit ich mich erinnern kann, bekam ich neben Unterkunft und Verpflegung 50 DM im Monat. Die Verpflegung erhielten wir zusammen mit den Jugendherbergsgästen, mal mehr, mal weniger. Da mussten dann immer Tische und Bänke aufgestellt und wieder weggeräumt werden. Nachts wurde der Raum als Schlafsaal benutzt, wozu die Hängematten an der Decke befestigt wurden. Manchmal kamen auch größere Gruppen zu Gast, und auch wir Schiffsjungen erhielten Zuwachs, einmal vier Kadetten vom Norddeutschen Lloyd, die bei uns Seemannsbeine bekommen sollten.
Die Stammbesatzung bestand aus Kapitän Hattendorf, der aber zu Hause bei seiner Frau wohnte und an Bord den Salon und die Kapitänskajüte im Achterschiff hatte, alles in feinstem Mahagoniholz getäfelt. Außerdem gehörten zur Stammbesatzung noch der Segelmacher, ein Freiherr von Kieseritzky, der in seiner Jugend von seinem polnischen Gut getürmt war und schon viele Fahrten der DEUTSCHLAND mitgemacht hatte, die 1927 bei Blohm & Voss erbaut worden war.
Da gab es noch den Maschinisten Gerdes aus der Braker Gegend, der für Technik und Elektrik zuständig war. Da das Schiff mit einem Elektroaggregat für 110-Volt-Spannung eingerichtet war, wir aber den Strom vom Elektrizitätswerk von Land mit 220-Volt-Spannung bekamen, musste man bei den elektrischen Geräten immer aufpassen, wenn umgeschaltet wurde. Außerdem war da noch der Bootsmann, der aus Cuxhaven stammte und die Köchin für die Jugendherberge, eine Kriegerwitwe mit ihrem Sohn. Sie alle wohnten im Achterschiff in den Offizierskammern.
Wir Jungen konnten jetzt in die sogenannten Unteroffizierskammern mit mehreren doppelstöckigen Kojen in einen Raum im Vorderschiff einziehen. Zu unserer Gruppe gehörten Pidder, der Maler, ein Hilfsarbeiter und die vier Kadetten vom Norddeutschen Lloyd. Neben mir gab es noch einen Tischler, Dietmar Wolff, der aber zu Hause in der Neustadt wohnte.
Wir hatten eine kleinen Werkstatt mit Hobelbank und führten kleinere Holzreparaturen durch. Wir beiden Tischler haben uns gut verstanden. Dietmar hat später noch ein Studium aufgenommen und wurde Geschäftsführer der Handwerkskammer in Hoya und später in Wiesbaden.
Gelegentlich musste ich zusammen mit den Kadetten bei der Decksarbeit helfen. Da mussten wir mit Ziegelsteinen, sogenannten „Gesangbüchern“ – weil früher bei dieser Arbeit gesungen wurde - das Teakholzdeck scheuern. Später kam ein Linoleumbelag darauf und heute ist es durch ein völlig neues Teakholzdeck ersetzt. Wir wurden auch in die 30 m hohen Masten und in die Rahen gejagt, und ich lernte den Unterschied zwischen Wanten und Pardunen, sowie die Namen der Masten: Fock-, Groß- und Kreuzmast, denn die DEUTSCHLAND war ein Vollschiff ohne eigenen Besanmast. Auch Spleißen und Knoten machten mir Spaß. Aber das konnte ich ja alles schon von meiner Rheinschifffahrtszeit, obwohl die Seeleute etwas verächtlich von den Süßwassermatrosen sprechen. Ich wollte aber gerne richtig zur See fahren und andere Länder sehen.
Ich sprach mit Kapitän Hattendorf darüber, zu dem ich ein gutes Verhältnis hatte und das auch später noch viele Jahrzehnte anhielt, als er Werftkapitän bei Stülken in Hamburg war und ich im Rauhen Haus studierte und als er Geschäftsführer des Deutschen Schulschiffsvereins wurde und ich wenige Straßen weiter beim Diakonischen Werk in Bremen arbeitete. Der Kapitän versprach mir, dass er sich mal umhören wolle, denn es gab damals nur eine Handvoll deutscher Schiffe. Nicht weit von uns entfernt lag die PAMIR, ein stolzer Viermaster. Ich hatte gehört, dass dort ein zweiter Schiffszimmermann gesucht werde. Aber als ich nachfragte, war die Stelle gerade zwei Stunden vorher besetzt worden und mein Traum zerplatzt. Später dachte ich manchmal daran, wozu es gut war, denn es war die letzte Fahrt der PAMIR und nur wenige der Besatzung haben überlebt.
Eines Tages rief mich Kapitän Hattendorf und sagte zu mir: „Seemann, ich habe ein Schiff für dich, du musst dich aber beeilen, die wollen bald auslaufen.“ Es war die ANTON WILHELM, ein fast neues Küstenmotorschiff mit 500 BRT und fünf Mann Besatzung im Vorschiff. Im Achterschiff wohnte der Eigner und Kapitän Wilhelm Boyksen, sowie der Steuermann. Ich war mit 22 Jahren der „jüngste Moses“, da ich noch keine Fahrzeiten in meinem Seefahrtbuch hatte, obwohl ich älter war als die anderen Schiffsjungen und Matrosen. So wurde ich erst mal in die Kombüse geschickt und sollte für die Besatzung kochen. Der Steuermann hatte Buttermilchsuppe angeordnet, aber die zerrann und wollte nicht dick werden. Als er zur Kontrolle kam, hat er sie über Bord gegossen, und ich musste zusehen, wie er so etwas kochte.
Das Schiff wurde von einem Kran mit Paletten voller Kartons mit Becksbierdosen beladen, die für die belgischen Kolonien bestimmt waren. Die Ladearbeiten verrichteten die Schauerleute. Wir mussten nur aufpassen, dass keine Schäden am Schiff entstanden.
Mit ablaufendem Wasser ging die Fahrt weserabwärts und dann nach Antwerpen, wo die Fracht in große belgische Schiffe umgeladen wurde. Da pulsierte das Leben im Hafen. Leider bin ich aber nicht in die Stadt gekommen. Ganz in unserer Nähe lag das katholische Seemannsheim „Stella Maris“, wo man ein Bier trinken und auch nach Schallplattenmusik mit den Mädchen tanzen konnte. Leider wurde die nette Stimmung durch einen betrunkenen norwegischen Seemann gestört, der unbedingt eine Schlägerei anfangen wollte, als er hörte, dass wir deutsch sprachen. Es war schon spät geworden, und ich hatte mich im Hafen verlaufen. Da sah ich an der gegenüberliegenden Kaimauer unser Schiff liegen. Da ich nicht noch einmal das ganze Hafenbecken zurücklaufen wollte, zog ich mich aus, nahm meine Kleidung als Bündel über den Kopf und schwamm auf die andere Seite.
Leider war in Antwerpen keine Fracht zu bekommen, und so fuhren wir mit dem leeren Schiff nach Hamburg. Unterwegs gerieten wir in einen schweren Sturm mit Windstärke 10. Da hat sogar der Kapitän die Fische gefüttert. Ich musste dann hinterher alles aufwischen, obwohl mir selber hundsübel war. Ich bekam allerhand Ratschläge gegen die Seekrankheit, wie z.B. Brot mit Rum. Als wir die Elbe hochfuhren, sagte ich zum Kapitän, dass es wohl doch nicht der richtige Beruf für mich sei, wofür er auch Verständnis hatte. Die anderen Besatzungsmitglieder sagten etwas traurig zu mir: „Du hast wenigsten schon einen richtigen Beruf, in dem du an Land Arbeit findest, aber wir müssen auf Gedeih und Verderb durchhalten."
Ich brachte meine Seekiste, die ich mir auf der DEUTSCHLAND gebaut hatte, mit meinem Werkzeug zum Güterbahnhof und fuhr mit dem Rad wieder in mein Zuhause nach Altenhagen I und meldete mich tags darauf wieder beim Arbeitsamt.
„Gott ist Sonne und Wind, doch das Steuer, dass ihr den Hafen gewinnt, ist euer!“
Als sich später herausstellte, dass es nicht mehr genügend deutsche Seeleute gibt, die den Bestand der Seekasse als Rentenversicherungsträger garantieren können, wurden alle Leute, die irgend wann, wenn auch nur kurz, einmal zur See gefahren waren, in die Zuständigkeit der SBG gegeben, so dass ich heute von dort mein Altersruhegeld beziehe und dadurch immer wieder an meine kurze viermonatige Seefahrtzeit erinnert werde.
Hilfsarbeiter
Eines Tages wurde mir auf dem Arbeitsamt gesagt, dass ich als Hilfsarbeiter bei der Schlosserei W. anfangen könne. Die hatte gerade zwei große Aufträge an Land gezogen: Balkon- und Treppengeländer für die Gewerkschaftsschule und die Zentralheizungsanlage für die neue Villa des Landrats. Es war harte Knochenarbeit, denn die schweren Eisenteile und die damals noch gusseisernen Heizkörper mussten die Treppen hinauf getragen werden. Im Geiste stellte ich mir vor, wie angenehm doch das Leben sein könnte, wenn man hier in den komfortablen Zimmern von unseren Gewerkschaftsbeiträgen wohnen dürfte. Beim Heizungsbau hatte ich einen guten älteren Gesellen, mit dem ich zwischendurch auch Reparaturen an den damals in Mode gekommenen Koksheizungen durchführte und habe viel hinzugelernt. Eines Tages kam der Meister kurz vor Feierabend und sagte, dass wir in der kommenden Nacht den Kessel in der Heimvolkshochschule auswechseln müssten, damit am nächsten Morgen wieder geheizt werden könne, denn es war bitterkalt. Also kaufte ich noch etwas Verpflegung für die Nacht und dann ging es los. Es war harte Arbeit, mit Hammer und Meißel die eingerosteten alten Kesselglieder auseinander zu trennen und die neuen schon bereit liegenden wieder zusammenzuschrauben. Aber wir haben es geschafft, und gegen Morgen funktionierte die Koksheizung wieder. Der Meister kam zur Abnahme und sagte, wir sollten das Werkzeug zusammenpacken und wieder zur Baustelle in der Villa gehen. Ich sagte ihm, dass ich nach der gestrigen Schicht und der durcharbeiteten Nacht nun sehr müde sei und mich zu Hause etwas ausschlafen wolle. Da wurde er sehr wütend und meinte, dass ich auch an den Überstundenzuschlag denken solle. Das Haus müsse zu einem bestimmten Termin fertig werden. Meine Aufgabe war es, von den langen Rohren die richtigen Längen ab- und an den Enden Gewinde anzuschneiden. Manchmal musste ich auch Sand in die Rohre füllen, sie mit dem Schweißbrenner erhitzen und nach einer Schablone biegen. Es waren komplizierte Arbeiten, weil alle Rohre verdeckt im Mauerwerk verliefen und schwierig zu schweißen waren, meist nur mit Hilfe eines Metallspiegels. Ich hatte immer noch guten Kontakt zu den Lehrern der Volkshochschule in Springe, und sie rieten mir, eine Pädagogische Hochschule zu besuchen, um Lehrer zu werden. Damals wurde von der Regierung in Hannover gerade ein neues Programm aufgelegt, nach dem man auch ohne Abitur Lehrer werden konnte, denn es fehlten die Dorfschullehrer in den Zwergschulen auf dem flachen Lande. Drei Pädagogische Hochschulen wurden dafür eingerichtet. Die in Lüneburg kam nach Meinung meiner Lehrer nicht in Frage, da sie zu bürgerlich war. Die in Hannover war sehr überlaufen und stellte bei den Tests die härtesten Anforderungen. Ich sollte es in Braunschweig versuchen, wo am ehesten die Aussicht bestand, aufgenommen zu werden. Gegen ihre Ratschläge schickte ich aber meine Bewerbung nach Hannover. Ich wurde zum Test vorgeladen und nahm dafür einen Tag Urlaub, was dem Meister Wedekind schon nicht passte. Beim Test fiel ich durch, weil ich nicht musikalisch war. Von einem Dorfschullehrer erwartete man, dass der ein Instrument spielen und einen Chor leiten, noch besser sogar, sonntags die Orgel spielen konnte. So fuhr ich betrübt wieder nach Hause.
Am nächsten Morgen erschien der Meister sehr früh auf der Baustelle und sagte mir, dass ich in die Werkstatt gehen und die Toilettengrube ausheben solle. Den Begriff „Arbeitsverweigerung“ kannte man damals noch nicht. Der Geselle riet mir, dabei ein fröhliches Gesicht zu machen und ein Liedchen zu singen. Nach einigen Wochen war die Heizungsanlage fertig und alle Schweißstellen waren sogar dicht. Da keine weiteren Aufträge vorlagen, hat mich Meister Wedekind wieder entlassen und zum Arbeitsamt geschickt. Bei dem guten Verdienst hatte ich mir jedenfalls einige Rücklagen bilden können. Der Winter ging langsam zu Ende, und ich habe viel gelesen, da das Wetter noch nicht zu Ausflügen einlud. Manchmal half ich auch den Bauern im Dorf beim Dreschen, da fiel dann ein Mittagessen und ein Stück Wurst ab. Andere Arbeit gab es bei den Bauern nicht, da sie Landstücke an die sogenannten „kleinen Leute“ verpachtet hatten, die ihre Pacht in den Spitzenarbeitszeiten abarbeiten mussten. Viel war im Dorf nicht los, aber eines Abends kam ein „Volksmissionar“, der in der überfüllten Kirche einen Vortrag über Glaubensfragen hielt. Darüber hatte ich mir bisher noch keine Gedanken gemacht. Es war Pastor Rudolf Grote von der „Niedersächsischen Lutherischen Volkshochschule“ in Hermannsburg. Er warb junge Leute für den Besuch des Winterkursus 1953. Aber das war noch lange hin. Für alle Fälle ließ ich mir Antragsformulare geben.
Eines Tages wurde uns vom Arbeitsamt mitgeteilt, dass neue Richtlinien für ledige Arbeitslose herausgekommen seien. Mit der deutschen Industrie ging es aufwärts, und es fehlten Bergleute für die Kohleförderung, damals die Hauptenergiequelle. So musste ich mich für mindestens ein halbes Jahr für den Bergbau verpflichten, sonst hätte ich die ärztlichen Untersuchungskosten und die Bahnfahrt zurückerstatten müssen. Da ich zum Winter sowieso nach Hermannsburg wollte, löste ich meinen Haushalt in Altenhagen I auf. Ich hatte mir inzwischen einen leichten Kleiderschrank von 1 m Breite gebaut, den man mit 4 Schrauben auseinandernehmen konnte, sowie eine Schlafcouch mit einem Bücheraufsatz. Die Sachen konnte ich bei einer Cousine meiner Mutter unterstellen, deren Mann in Großenwieden bei Hessisch Oldendorf an der Weser Pastor war und ein riesiges altes Pfarrhaus bewohnte, zu dem früher auch Ländereien gehört hatten.
Bergmann
Ich setzte mich also in den Zug und fuhr nach Bochum-Dahlhausen zur Zeche Dahlhauser Tiefbau. Sie gehörte der Essener Bergbaugesellschaft und war damals schon auf der Abschussliste, weil sie nur minderwertige Magerkohle förderte und die Kohleflöze größtenteils schon ausgebeutet waren. Da aber die Nachfrage sehr groß war, wurde die Kohle zermahlen, mit Teer gemischt und zu Eierbriketts gepresst. Vor meiner ersten Einfahrt ging ich ins Lohnbüro und bekam eine Blechmarke mit einer Nummer zugeteilt, die mit der Grubenlampe und der Lohnkarte übereinstimmte. Außerdem erhielt ich gleich ein Mitgliedsbuch der Gewerkschaft mit dem Hinweis, dass die Beiträge automatisch vom Lohn einbehalten werden würden. Alle 10 Tage gab es Abschlag und in der letzten Monatsdekade die Abrechnung. Ich bekam einen Lederhelm, ein Paar Unfallschutzschuhe mit Stahlkappe vorne und ein Rutschleder. Die Sachen verblieben nach der Schicht in der Schwarzkaue, wurden an einer Kette hochgezogen und mit einem Schloss gesichert. Nach der Arbeit ging es in die Waschkaue (Dusche) und man schrubbte sich gegenseitig den Rücken. Danach kam man in die Weißkaue, wo wir unsere Straßenkleidung mit der Kette von der Decke holten. Es gab dann noch einen Raum, in dem man sich die schwarzen Augenränder, an denen man sofort den Bergmann erkannte, mit einem dünnen Öl entfernen konnte. Bei Schichtende gaben wir unsere Blechmarken ab. Beim nächsten Schichtbeginn bekamen wir für die Marke unsere frisch aufgeladene Grubenlampe. Das war immer auch die Kontrolle dafür, ob noch jemand unten geblieben war.
Wenn bei Schichtwechsel Seilfahrt für die Belegschaft war, durften keine Kohlewagen befördert werden. Unten stiegen wir in die bereitstehenden leeren Kohlenzüge und fuhren mit Pressluftlokomotiven in die verschiedenen Stollen vor Ort. Ich wurde zunächst einem alten Invaliden zugeteilt, der mich anlernen sollte. Seine Aufgabe war es, gebrochene Holzstempel auszuwechseln, wenn der Bergdruck zu stark wurde. Wenn ein Flöz, ca. 60 bis 100 cm dick, ausgekohlt war, ließ man es entweder zusammenbrechen oder kippte vom darüber liegenden Stollen Abfallgestein herunter, um Bergschäden an den darüber liegenden Häusern zu vermeiden. Nachdem mich „Babbe“, so wurde er von den Kumpels genannt, einige Wochen eingewiesen hatte, wurde ich zur Nachtschicht versetzt. Es war unsere Aufgabe, die Förderbänder zu versetzen, damit die Frühschicht wieder reibungslos die Züge beladen konnte, denn es ging alles im Akkord. Am schwierigsten war das Versetzen der Pressluftmotoren, mit denen die Bänder angetrieben wurden. Unser Aufseher war ein alter Fahrhauer, der im Rang über den normalen Hauern stand, aber unterhalb der Steiger, die eine privilegierte Beamtenkaste mit eigener Waschkaue, grauen Anzügen und leichteren am Helm befestigten Lampen bildeten...
Ich wohnte im Ledigenheim „Horkenstein“, einem ehemaligen Ausflugslokal, mit 6 Mann in einem Zimmer mit Doppelstockbetten. Dort bekam ich tagsüber kein Auge zu, denn alle arbeiteten in drei verschiedenen Schichten. Es kam auch noch die Putzfrau mit ihrem Bohnerbesen, und nebenan läuteten die Glocken der katholischen Kirche zu allen möglichen Tageszeiten. Das Essen in der Kantine schmeckte nicht besonders, war aber sehr teuer. Auch Brot und Belag mussten wir für teures Geld in der Kantine kaufen, denn wir lagen weit vom Dorf ab und hatten in den schmalen Spinden auch keinen Platz zum Lagern. Bei uns im Ledigenheim, im Volksmund „Bullenkloster“ genannt, wohnten neben den vom Arbeitsamt Eingewiesenen meistens verkrachte Existenzen, versoffene Studenten oder Geschiedene. Einer stellte sich bei mir gleich als der Trainer des damals populären Boxers Bubi Scholz vor. Er hatte immer zwei Paar Boxhandschuhe dabei und wollte unbedingt eine Schallplattenlänge mit mir trainieren. Das habe ich aber nur einmal mitgemacht. Damit ich wenigstens sonntags etwas Erholung hatte, kaufte ich von einem abziehenden Kumpel ein Faltboot mit Segel und Liegeplatz im Bootshaus. Meistens fand sich ein Kumpel, der mitfuhr, denn alleine kam man nicht gegen die Strömung der Ruhr an.
Nach drei Monaten war ich mit den Nerven fertig und sah mich nach einer anderen Zeche um, da ich mich für 6 Monate verpflichtet hatte. Ich hatte Glück und konnte in Essen-Kray bei der Zeche Katharina anfangen, die zur gleichen Gesellschaft gehörte. Hier bezog ich im neu erbauten Ledigenheim ein schönes Einzelzimmer. Auch die Kantine war gut geführt. Ich hatte abwechselnd Früh- und Spätschicht und wurde als Springer vor Kohle eingesetzt. Wir arbeiteten im Gruppenakkord und wurden nach gefüllten Loren abgerechnet. Da musste ich aufpassen, dass die Kohle in den steilen Flözen immer richtig nachlief. Jeder Hauer hatte seinen Abschnitt, wo er mit dem Presslufthammer die Kohle brach. Wenn es keine Störungen gab, haben wir gutes Geld verdient, das ich sorgfältig auf mein Sparbuch brachte, denn ich hatte inzwischen die Bewerbung für die Heimvolkshochschule nach Hermannsburg abgeschickt. Mein Paddelboot hatte ich wieder günstig verkauft und machte Touren mit dem Rad nach Essen zum Münster, nach Kloster Werden, zur Villa Hügel und rund um den Baldeneysee mit seinen Wasserburgen. Einmal wurden wir auch vom CVJM zu einer günstigen Busfahrt ins Sauerland eingeladen. Die 6 Monate waren rum, und ich fuhr wieder nach Großenwieden, ließ meine überflüssigen Sachen dort und reiste weiter nach Hermannsburg.
VHS Hermannsburg
Der Kursus an der Volkshochschule in Hermannsburg begann im November 1953 mit 80 jungen Männern aus ganz Niedersachsen, vorwiegend aber aus der Heide und der Gegend um Bremervörde. Das waren die Einzugsgebiete der durch Ludwig Harms angestoßenen Hermannsburger Erweckungsbewegung. Es waren meistens Bauernsöhne, die nur in den Wintermonaten von den Höfen fort konnten. Wir bekamen nur Mittagessen und mussten für die übrigen Mahlzeiten selber sorgen. Da erhielt ich meistens die Reste an Brot und Wurst, wenn die Bauernsöhne am Wochenende nach Hause fuhren. Für viele war es die erste Abwesenheit von zu Hause, und die Mütter packten entsprechend ein. Neben dem Unterricht hatten wir auch Dienste zu verrichten, wie Kartoffelschälen, Tischdecken und Abwaschen. Das taten wir gerne, da jeden Winter fünf Haustöchter dabei waren, die dann den Sommerkursus für Mädchen unentgeltlich bekamen. Außerdem wurden sie für Chor und Volkstanz benötigt, aber dazu kamen auch viele Altschülerinnen der vorhergegangenen Kurse. Als der Neubau fertig war, mussten die Altschüler mit ihren Treckern anrücken und den Füllsand für die Außenanlagen heranfahren, den wir in einer Kiesgrube mit Schippen aufluden. Der Neubau war fertig und konnte bezogen werden, was aber wegen der höheren monatlichen Kosten nur den reichen Bauernjungen vorbehalten blieb. Zusammen mit Studienrat Starke wohnten wir mit 6 Mann zusammen weiter in der Holzbaracke. Der Winter war kalt, und wir mussten uns selber um Holz und Kohlen kümmern. Die Wasserhähne im Waschraum waren eingefroren und Studienrat Starke machte uns morgens etwas Rasierwasser warm, weil er die Kohlen vom Haus bekam. So saßen wir auch abends oft bei ihm im Zimmer und sangen zu seiner Laute, und er erzählte uns Geschichten. Besonders feierlich war für ihn immer noch Kaisers Geburtstag, an dem der sich weiße Handschuhe anzog und von den Paraden erzählte, und wir legten dann für eine Flasche Wein zusammen. Wir erhielten allgemeinbildenden Unterricht und Literaturkunde. Fräulein Ehlers, eine schmächtige, weißhaarige ältere Dame, übte mit uns Laienspiele ein. Sonst war sie mehr im Sommer für die Mädchen zuständig. Neben den Unterrichtsstunden für alle 80 Schüler im Essraum gab es auch noch Kleinkreise für Interessengruppen. Die größte Gruppe leitete der Landwirtschaftslehrer Wackenroder. Ich hatte mich dem Kleinkreis Jugendarbeit angeschlossen, den Pastor Grote in seinem Arbeitszimmer moderierte. Er war ein ehemaliger Panzeroffizier und kannte keine Hindernisse. So mussten wir manchmal in der Pause auf die angrenzende Weide des Missionshofes, uns in zwei Reihen aufstellen und Reiterkämpfe durchführen. Oft spielte er auch Fußball mit uns. Für Chor und Kirchenmusik sorgte Dorfkantor Götz Wiese, der später Landeskirchenmusikdirektor in Hannover wurde. Der Missionszögling Johannes Lauenhard übte mit dem aus etwa 20 Bläsern bestehenden Posauenchor. Mitunter unterrichtete Missionsdirektor Elfers uns auch über Ludwig Harms und die Arbeit der Hermannsburger Mission. Besonders interessant waren die Fahrten mit dem alten Bus von Heinrich Lambrü durch Niedersachsen, die immer mehrere Tage dauerten. Wir wurden dann auf die Bauernfamilien in den Dörfern verteilt, meistens Altschüler, und führten nach einer Eröffnungspredigt von Pastor Grote unser Laienspiel auf. So kamen wir nach Kloster Loccum, wo gerade eine Evangelische Volkshochschule entstanden war, und die Erichsburg, wo Pastor Grote als Vikar gewesen war. Wir besichtigten auch Betriebe, wie VW in Wolfsburg, Continental-Reifen in Hannover und ein Bergwerk der Kalichemie in Sehnde bei Hannover. Ich habe auf Zetteln die wichtigsten Gedanken des Unterrichts mitgeschrieben und später in Schulhefte eingetragen, die ich in der Missionsdruckerei zu einem Buch habe binden lassen. Pastor Grote hatte den Ehrgeiz, aus jedem Kursus etwa fünf Schüler als Nachwuchs in die Diakonenanstalt und das Diakonissenmutterhaus nach Rothenburg zu entsenden. Ich wollte auch Diakon werden, jedoch nicht in Rothenburg, da ich der Ansicht war, dass mir für die dort ausgeübte Krankenpflege die nötige Geduld fehlte, vielmehr wollte ich lieber in die Jugendarbeit und bewarb mich daher im Rauhen Haus in Hamburg. Eines Tages bekam ich einen Brief zu einem Vorstellungsgespräch. Ein anderer Mitschüler hatte sich bei der Pädagogischen Hochschule in Hamburg beworben. So liehen wir uns von einem der Bauernsöhne ein Motorrad und brausten nach Hamburg los. Der Brüderrat in Rauhen Haus, lauter würdige ältere Herren, stellte viele seltsame Fragen nach meinen Beweggründen, warum ich Diakon werden wolle. Aber dann wurde ein Termin abgemacht, an dem ich probehalber ins Rauhe Haus eintreten könne. Mein Mitschüler Velten holte mich zur vereinbarten Zeit wieder im Rauhen Haus ab, und wir kamen abends nach Hermannsburg zurück. Die Mitschüler hoben mich vom Motorrad, denn ich war völlig steif gefroren, da ich ja nicht über die notwendige Motorradbekleidung verfügte. Einige Tage später kam ein Brief vom Rauhen Haus, in dem beanstandet wurde, dass sich bei meinen Bewerbungsunterlagen kein Konfirmationsschein befände. Ich ging damit zu Pastor Grote und sagte ihm, dass ich nicht konfirmiert sei, weil 1945 die Flucht dazwischen gekommen wäre, für ihn natürlich überhaupt kein Problem. An einem Abend wurden alle 80 Mitschüler in die alte Peter-Pauls-Kirche bestellt, und ich wurde allein feierlich eingesegnet. Die Leute aus meinem Kleinkreis sammelten und schenkten mir das gerade neu erschienene Gesangbuch mit Widmung und Unterschriften. Leider hatte Pastor Grote vergessen, die Konfirmation dem Kirchenbüro zu melden, so dass sie für die spätere Goldene Konfirmation nicht amtlich dokumentiert war. Da ich vielseitig interessiert war, hatte ich von den Mitschülern den Spitznamen „Kultus“ bekommen. Es sind viele lebenslange Freundschaften aus dieser Hermannsburger Zeit geblieben, und manchmal sieht man sich noch bei den jährlichen Altschülertreffen. Der Kursus ging seinem Ende entgegen und sollte mit einer Italienreise gekrönt werden, für die sogar meine restlichen Ersparnisse noch reichten. Die Leitung hatten Studienrat Starke und Fräulein Ehlers. Ich durfte bei den Vorbereitungen helfen: Pässe einsammeln, Visa beantragen, Listen schreiben, Zahlungseingänge verbuchen. Dann stand Heinrich Lambrü mit seinem klapprigen alten Bus vor der Tür, und wir luden Zelte, Luftmatratzen und die Mitreisenden ein. Studienrat Starke stammte noch aus der Wandervogelbewegung vor dem ersten Weltkrieg, und so wurde unterwegs viel gesungen. Es ergab sich, dass ich neben Ilse Cohrs, einer Bauerntochter aus Betzendorf bei Lüneburg, zu sitzen kam. Zuerst war sie gar nicht begeistert darüber, denn sie hätte viel lieber neben ihrer Freundin, Christa Rodewald, gesessen, die mit ihrem Vetter, Dirk Focken Möller, verlobt war. Aber allmählich hatte sie nichts dagegen einzuwenden, wenn sich beim Kartenstudium unsere Finger berührten. Die einzelnen Stationen unserer Reise möchte ich nicht weiter erörtern, denn ich habe anschließend alles in einem Gedicht festgehalten. Wir schliefen in Jugendherbergen oder auf Campingplätzen, wo wir Jungen den Mädchen beim Aufbau der Zelte und Aufblasen der Luftmatratzen halfen. Besonders begeistert waren die Mädchen immer, wenn sie eine richtige Toilette fanden, denn damals gab es in Italien nur Löcher im Fußboden und zwei Griffe zum Festhalten, gleichzeitig auch Dusche. Wir hielten jeden Morgen vor dem Frühstück eine Morgenwache mit Tageslosung, Gebet und einem Lied, die meistens von Studienrat Starke oder mir übernommen wurden, da sich niemand danach drängte. Die Besichtigungen in Genua, Florenz, Rom, Bologna und Venedig waren sehr schön, aber auch anstrengend. Ich freute mich besonders, dass ich bei den Inschriften meine Lateinkenntnisse gebrauchen konnte und alles original vor mir sah, was ich einmal in Geschichte und Latein nur in Büchern gelesen hatte. Der Höhepunkt unserer Reise war eine abendliche Gondelfahrt in Venedig...
Bevor ich also den Schritt in die fünfjährige Ehelosigkeit und Armut auf Zeit im Rauhen Haus tat, lieferte ich meine Ersparnisse anlässlich der Abschlussreise der Kursteilnehmer der Volkshochschule nach Venedig in den Kunsttempeln Italiens ab.
Ich fuhr nach Großenwieden, wo ich meine Sachen auswechselte. Als mich mein Onkel am nächsten Morgen nach Hessisch-Oldendorf zum Bahnhof bringen wollte, war Hochwasser und die Straße nicht mehr befahrbar. Also zog ich meine Schuhe aus und watete durch das reißende Weserwasser. Auf der anderen Straßenseite stand ein Polizeiauto, und ich fragte, ob sie wohl nach Hessisch-Oldendorf fahren und mich mitnehmen könnten. Die Antwort des Polizisten: „Dann haben wir wenigstens eine Gelegenheit, eine gute Tat zu tun.“
Als ich am 9. April 1954 per Anhalter und ohne Geld im Rauhen Haus ankam, meldete ich mich im Büro im Haus Tanne und wurde ins „Auffanglager“ geschickt. Das war ein langgestrecktes Dachzimmer über dem Altenheim im Haus „Goldener Boden“. Es war ein Kommen und Gehen unter den Diakonenanwärtern. Von den etwa 30 „Probebrüdern“ waren wir nach fünf Jahren beim Examen nur noch mit 9 übriggeblieben. Ich bekam in der Wäscherei Hose, Jacke und Schürze aus blauem Leinenstoff und musste mich bei Inspektor Füßinger zur Arbeitseinteilung melden.
Er fragte mich, welchen Beruf ich erlernt habe. Sicherlich wusste er es bereits aus meiner Bewerbung. Als er meine Antwort hörte, ich sei Tischler, ging ein Leuchten über sein Gesicht, und er schickte mich in die Tischlerei, wo ich helfen sollte, ein neues Pappdach auf die Ruine des ehemaligen Handwerkerhauses zu montieren. Es stand an der kleinen Pforte zur Horner Straße, dort, wo heute die Fachhochschule steht. Meister Lawiscek, der die Tischlerei (ein Raum mit Hobelbank und Kreissäge) vom Rauhen Haus gepachtet hatte, war ein netter Mann, nur leider hatte er immer einen zu großen Durst. Er sagte dann in gewissen Abständen: „Machen Sie mal alleine weiter. Wenn Füßinger kommt: Ich hole Nägel.“ Die Arbeit am Dach machte mir Freude, aber eines Tages war es fertig.
Die Mahlzeiten mussten wir Probebrüder morgens, mittags und abends, sauber angezogen, zusammen mit dem Vorsteher, Pastor Donndorf, und seiner Frau im Haus Tanne einnehmen. Meistens waren auch die Brüder Füßinger und Niemer, der die Verwaltung und das Altenheim leitete, zugegen. Es wurden vor und nach dem Essen Tischgebete gesprochen, morgens auch eine Andacht gehalten. Am Abend fand täglich eine Andacht für alle Anstaltsbewohner im Wichernsaal statt, die einer der älteren Ausbildungsbrüder zu halten hatte. Mitunter nahmen uns Herr oder Frau Pastor Donndorf nach Tisch einzeln in eine Ecke und erläuterten uns, was sie an unserer Haltung bei Tisch zu beanstanden hatten. Bedient wurden wir von den „Haustöchtern“, die im Haus Tanne der Aufsicht von Frau Pastor Donndorf und in der Großküche Frau Füßinger unterstanden. Einige Leute sahen in ihnen zukünftige Diakonenfrauen. Aber Bruder Füßinger gab uns den Rat: „Zwischen einem Bruder und einer Haustochter steht am besten immer ein breiter Tisch.“ So lernte ich allmählich die Hierarchie und Subkultur einer Anstalt zu begreifen.
Bei der täglichen morgendlichen Arbeitseinteilung sagte dann Bruder Füßinger zu mir: „Gehen Sie zu meiner Frau in die Küche.“ Die befand sich damals im Keller der Ruine der ehemaligen Wichernschule, worüber man im Hochparterre einige ehemalige Klassenräume notdürftig als Esssäle mit Schichtbetrieb und begrenzten Essenzeiten hergerichtet hatte. Das Kommando in der Küche hatte Fräulein Harms, eine hünenhafte blonde Holsteinerin, die mit schriller Stimme und scharfer Zunge immer an den spitzen Stein stieß. Sie zeigte mir die schweren Aluminiumtöpfe, die an einem Wasserkran gescheuert werden mussten. Zwischendurch riss sie mich in die Gegenwart zurück: „Bruder Franke, Sie müssen Kohle aufs Feuer werfen, ich kann sonst nicht kochen. Frau Füßinger, verantwortliche Küchenchefin und ehemals als Haustocher aus Westfalen ins Rauhe Haus gekommen, verrichtete ihre Arbeit geräuschlos, aber mit wachsamen Blicken auf Haustöchter und Küchenbrüder. Füßinger stammte aus München. Er wurde nach seinem Examen sofort Erziehungsinspektor im Rauhen Haus und hatte seither außer der zwangsweisen Militärzeit im Krieg bei der Marine nie etwas anderes gesehen. Eine Sage aus grauer Vorzeit berichtete, er soll die damalige Haustochter Elisabeth Holve aus Hemer morgens zwischen Tür und Angel gefragt haben: „Wenn Sie meine Frau werden wollen, dann überlegen Sie es sich, bis heute Abend erwarte ich Bescheid.“ Beide hatten eine raue Schale, wahrscheinlich eine Isolierschicht gegen zu enge Freundschaften. Als er später als Brüderältester nebenbei auch noch unsere Anstellungsverträge aushandelte, hat er viel für uns herausgeholt. Zu den Mahlzeiten musste ich weiterhin pünktlich in sauberer Kleidung im Speiseraum der Tanne erscheinen.
Brüderhof
Nach einigen Wochen sagte Füßinger nach dem Abendbrot zu mir: „Packen Sie Ihre Sachen und machen Sie sich fertig. Sie kommen zum Brüderhof in Gehilfenstellung. Um 22 Uhr fahren wir los.“ Er fuhr grundsätzlich erst immer spät abends zum Katten- oder Brüderhof, den Zweiganstalten im Norden Hamburgs, weil dann kaum noch Verkehr herrschte und in der Anstalt keine großen Probleme mehr zu befürchten waren. Neben ihm saß dann meistens seine Frau, die ihn knuffte, wenn das Auto wegen seiner Übermüdung ins Schlingern kam. Auf den hinteren Sitzen fuhren ein oder zwei Brüder mit, die den VW-Bus auf den Höfen zu ent- und beladen hatten. Es war erstaunlich, was da alles hin- und her transportiert wurde: Milchpulver und Käse aus amerikanischen Spenden zu den Höfen und Fleisch ect. von den Höfen ins Rauhe Haus zurück. Gegen Mitternacht kamen wir auf dem Brüderhof bei Harksheide mitten im Moor an. Der Brüderhof galt in Jungbrüderkreisen als „Genickbrecherstation“, auf der nur wenige Praktikanten das ganze Jahr durchhielten. Ich habe später immer behauptet, dass Füßinger Glück mit mir hatte, weil er mich dort müde und im Dunkeln abgeladen hatte. Der Brüderhof war als Ersatz für den aufgegebenen Holstenhof gekauft worden und sollte die Ernährung im Rauhen Haus teilweise sichern helfen. Der sandige Acker und die Wiesen waren ziemlich wertlos. Nur das Moor hatte zeitweilig wegen des Torfstichs einen hohen Wert. Am Anfang der NS-Zeit waren dort junge jüdische Emigranten untergebracht, die auf ihre Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Wahrscheinlich infolge eines Lichtscheins hatten im Krieg englische Flugzeuge einige Bomben abgeworfen und mehrere Gebäude zerstört. So bestand der Brüderhof bei meiner Ankunft 1954 aus Kuhstall, Pferdestall und Scheune in einem massiven Gebäude und einem massiven Wagenschuppen.
Auf den Ruinen waren zwei alte Wehrmachtsbaracken errichtet worden. In einer derselben wohnten wir drei Praktikanten zusammen mit fünf älteren geistig Behinderten in Doppelstockbetten auf Strohsäcken.
In der anderen Baracke war die Küche untergebracht und rechterhand die Hausvaterwohnung für Bruder Dückert und seine Familie. Links befand sich ein kleines Altenheim, in dem auch die Mutter von Bruder Dückert wohnte, zwischendrin auch noch Vorratsräume und ein Zimmer für zwei Haustöchter. Jeder von uns hatte seine feste Aufgabe... Nach dem Frühstück wurde die Arbeit eingeteilt. Ich hatte meistens mit den beiden Pferden zu pflügen oder zu eggen. Oft mussten wir alle 8 Mann in den runden Silo einsteigen und das Gras festtreten, immer mit einer Schüssel Viehsalz zwischen den Lagen. Besonders unangenehm war die Arbeit des Rübenverziehens, aber das kannte ich ja schon vom Rheinland her... An einem schönen Sonntag wollte Bruder Dückert dem Bullen etwas Gutes tun und brachte ihn auf die Weide, mehrfach gut angepflockt. Aber schon nach einer Stunde lief er wieder auf dem Hof herum, es war ihm wohl alleine zu langweilig gewesen. Aus den Heckstangen hatte er Kleinholz gemacht und nahm alles Bewegliche auf die Hörner. Ich bin dann langsam auf ihn zugegangen und habe ihn wieder in seinen vertrauten Stall gebracht. Vor den Sommerferien, wenn die Kühe auf der Weide waren, mussten wir den Kuhstall scheuern, kalken und Doppelstockbetten für die Ferienkinder aus dem Rauhen Haus aufstellen. Dann kam für einige Wochen frohes Jugendleben auf den Hof, und auch das Essen wurde besser. Sonst gab es fast nur Steckrüben mit fettem Bauchfleisch, Milchpulversuppe und Missionskäse. Als ich mal mit Bruder Dückert über verschiedene Missstände sprach, entgegnete er mir: „Da müssen Sie sich bei Pastor Donndorf beschweren, ich kann hier nichts ändern.“ An besonders heißen Sommertagen vor der Ernte mussten wir trotz der Mückenplage ins Moor und Torf stechen. Glücklicherweise gab es eine Torfpresse mit Benzinmotor, so dass wir nur die fertigen Soden zum Trocknen aufzupacken brauchten. An einem verregneten Sonntagmorgen dachte ich, eine ruhige Ecke zum Lesen gefunden zu haben. Da kam Bruder Dückert nach dem Frühstück zu mir: „Heute können Sie mal die Kühe im Moor hüten. Wir müssen die Weiden für die Erntezeit schonen. Mittagessen bringen wir Ihnen raus.“ Es kam die Ernte. Wir hatten wohl einen alten Binder, aber keinen Trecker, da Bruder Dückert keinen Führerschein hatte. So wurde ich per Rad zu einem Leihunternehmer ins Nachbardorf geschickt, um einen Trecker auszuleihen, da ich den Führerschein IV für Trecker und Motorrad hatte. Das wurden stressige Tage: Bruder Dückert saß auf dem Binder und brüllte ständig. Ich wusste nie, ob er sich nur über den Binder ärgerte oder ob ich anhalten sollte... Und dann kam die Erlösung. Ich hatte wieder die beiden Pferde zum Pflügen eingespannt. Bei der Kontrolle stellte Bruder Dückert fest, dass ich einen Riemen am Geschirr nicht richtig festgemacht hatte. Er war seltsam friedfertig und brubbelte dann vor sich hin: „Es ist ja doch sinnlos, dass ich Ihnen das noch mal erkläre, heute Abend kommt Bruder Füßinger und holt Sie wieder ab. Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, aber um Bruder Schleeh tat es mir leid, denn wir hatten uns gut miteinander angefreundet. Am Abend kam dann Bruder Füßinger, und ich habe mich artig von Familie Dückert, den Alten, den Haustöchtern und den „mithelfenden Pfleglingen“ verabschiedet. – Der Brüderhof hat sich in späteren Jahren gewaltig verändert. Das Moor ist trocken gelegt. Auf den Äckern und Weiden wurden ein Psychiatriealtenheim und ein Kinderheim erbaut, und auf dem Hofgelände stehen heute die Gebäude des Verlages Agentur des Rauhen Hauses. Bruder Schleeh wurde später Pastor in Dithmarschen, Norderstedt und Eiderstedt, und es entstand eine lebenslange Freundschaft zwischen uns.
Cuxhaven - Oktober 1954 – Juli 1955
Einen Tag blieb ich im Rauhen Haus, um die Formalitäten im Büro und beim Einwohnermeldeamt zu erledigen. Ich fuhr mit meinem Rad zum Bahnhof und löste eine Fahrkarte nach Cuxhaven. Bruder Kernich wartete schon sehnsüchtig auf mich, denn er saß im Lehrlingsheim in der Donnerstiftung ganz alleine mit 40 Lehrlingen. Es waren viele Flüchtlingsjungen aus der Umgebung, die meistens auf den Werften Lehrstellen gefunden hatten. Daneben war Kernich noch Gemeindediakon an der großen Garnisonskirche mit Jugendarbeit, Posaunenchor und verschiedenen Hilfsvereinen. Meine Aufgabe war es, zunächst morgens um 6 Uhr Kaffee zu kochen und die Brote für die 40 Lehrlinge zu streichen und auszugeben. Vom Rauhen Haus hatte ich, wie alle Praktikanten, einen Zettel mit den Liedern und Bibelstellen mitbekommen, die wir zum Unterrichtsbeginn unbedingt auswendig können mussten. So lagen Bibel und Gesangbuch neben den Butterbroten. Die Küche befand sich im Keller, und alle Speisen mussten mit dem Handaufzug per Verständigung mit Klopfsignalen oder Rufen hochgezogen werden. Um 8 Uhr kam die Küchenbelegschaft, und ich konnte selber frühstücken. Anschließend hatte ich die vier Schweine mit den Essensresten und zusätzlichem Kraftfutter zu füttern und auszumisten. Zum Heim gehörte ein sehr großes Grundstück mit schwerem Kleieboden, wovon ein Teil Garten war. An einem Nachmittag meinte Bruder Kernich, ich stinke immer so nach Schweinestall und schenkte mir seine Saunakarte. Mit den Lehrlingen und seiner Jugendgruppe haben wir viele bunte Abende veranstaltet. An einem Nachmittag in der Woche musste ich zu Pastor Arno Poetzsch zum Vorbereitungskreis für den Kindergottesdienst. Er war der frühere Marineoberpfarrer und hatte schwere Zeiten im Krieg hinter sich. Besonders belastend für ihn war es, wenn er desertierte Matrosen zur Erschießung zu begleiten hatte. In seinem Bücherregal stand in einer Ecke ein Totenkopf, der mich immer etwas erschauern ließ. Er hat mir später zum Abschied mehrere Bändchen mit seinen Tischgebeten und Gedichten geschenkt. Einige seiner Lieder fanden Aufnahme im Evangelischen Gesangbuch. Bruder Kernich war aushilfsweise auch Organist. Im Winter stand eine größere Orgelreparatur an, und er meinte, dass es ganz gut sei, wenn ich dabei etwas mithülfe. So putzte ich mit Staubsauger und Lappen die Orgelpfeifen. Er hatte auch einen vorzeitig entlassenen Strafgefangenen an der Hand, für den er Bewährungshelfer war. Mit dem zusammen musste ich die Gehwegplatten neu verlegen. Außerdem musste ich jede Woche die Hamburger Kirchenzeitung an die Bezieher in Altcuxhaven verteilen. Freitags fuhr ich mit dem Fahrrad in den Fischereihafen zu Husmann & Hahn und holte einen großen Korb Fisch zum Mittagessen. Und dann kam die unvergessliche Nacht kurz vor Weihnachten 1954. Für die Deutsche Bucht war eine Sturmflutwarnung ausgegeben worden. Da unser Haus direkt hinter dem Deich lag, schleppten wir die wichtigsten Sachen aus Küche und Vorratsräumen ins obere Stockwerk. Aber bei der höchsten Flutzeit ebbte das Wasser 50 cm unter der Deichkrone wieder ab, und wir konnten in Ruhe Weihnachten feiern. Wir hatten im Keller einen eigenen Räucherschrank, für den ich einen Sack Sägespäne von Laubholz besorgen musste. Nach dem Schlachten zeigte mir Bruder Kernich dann, wie ich täglich Schinken und Würste im Rauch zu beobachten hatte. Im Frühjahr musste der Garten bestellt und bearbeitet werden, und dann kamen bald die Sommerferien, für die ich in der großen Turnhalle an der Straße die Doppelstockbetten für die Hamburger Jugendgruppen aufstellen musste, die wir noch zusätzlich zu verpflegen hatten. Bruder Kernich wollte mit seiner Frau und den drei Kindern gerne Urlaub machen, und so kam Bruder Giering mit Familie als „Autorität“ zur Vertretung. Er war Pastor der Flussschiffergemeinde in Hamburg und hatte viele Kinder, so dass er keine großen Sprünge machen konnte. Beide waren früher in der Stadtmission in Breslau tätig gewesen, und so konnte er während seines Urlaubs mit seiner Familie unentgeltlich in Kernichs Wohnung wohnen und essen. Für mich war meine Gehilfenstellung in Cuxhaven eine herrliche Zeit, wenn ich auch nur selten zum Baden an die Nordsee kam. Sie ging im Juli 1955 zu Ende. Ich verabschiedete mich von Bruder Norbert Mieck, der im Städtischen Versorgungsheim als Praktikant tätig war. Er war, zumal lange vor mir eingetreten, sehr traurig, dass er noch nicht in den Unterricht durfte, weil er angeblich noch zu jung war, und nun musste er noch ein Jahr auf den Brüderhof. Auch vom Praktikanten im Seemannsheim verabschiedete ich mich, dort waren traditionsgemäß immer Diakone vom Stephansstift in Hannover tätig. Da ich die ganze Zeit über noch keinen Urlaub gehabt hatte und täglich von Montag bis Sonntag im Dienst gewesen war, durfte ich zwei Wochen früher fahren, bevor der neue Praktikant ankam. Ich fuhr die Strecke Cuxhaven-Hamburg auf Umwegen mit dem Fahrrad zurück und besuchte meinen alten Freund Helmut Seevers aus der Volkshochschulzeit, der in der Nähe von Bremen auf dem Hof seiner Eltern wohnte und auch andere ehemalige VHS-Mitschüler. Ich half bei Reparaturen der Stallungen und verdiente mir so noch einige Mark nebenbei. Dann meldete ich mich fristgerecht wieder im Rauhen Haus zurück. Leider waren noch nicht alle Brüder aus ihren Gehilfenstellungen heimgekehrt, so dass der Unterricht erst am 22. August 1955 beginnen konnte. In den Wochen dazwischen musste ich den erkrankten Nachtwächter vertreten und das Rauhe Haus mit stündlichen Rundgängen bewachen.
Auf dem Gelände des Rauhen Hauses standen vor dem 2. Weltkrieg 29 Gebäude. Während des Krieges war es von der NSDAP beschlagnahmt worden und sollte Nationalpolitische Erziehungsanstalt werden. Pastor Donndorf und Bruder Füßinger hatten sich in der Stadt Wohnungen suchen müssen. In der Nacht vom 27. zum 28. Juli 1943 wurden durch Brandbomben, die niemand rechtzeitig löschte, weil die Häuser größtenteils leer standen, 25 Gebäude zerstört. In den vier kleineren Häusern Tanne, Kastanie, Schönburg und Anker waren Luftschutzhelfer untergebracht, die in ihren Häusern die Brandbomben unschädlich machten.
1955 gab es außer den genannten, erhalten gebliebenen Gebäuden die Neubauten „Goldener Boden“ als Altenheim und „Ora et Labora“ mit dem Wichernsaal, in dem tägliche Andachten und Feiern stattfanden.
Der neuerbaute „Bienenkorb“ beherbergte die Wäscherei und die Duschräume. Die danebenstehende Bäckerei war verpachtet, belieferte aber das Rauhe Haus und beschäftigte Lehrlinge aus der Anstalt. Ein weiterer Neubau war die „Johannesburg“, die auf den Fundamenten des alten Hauses neu aufgebaut worden war. Dazu kam die „Fischerhütte“, eine alte Wehrmachtsbaracke aus Holz. Die Ruine der Wichernschule wurde als Küche genutzt. Darin befanden sich auch die Speisesäle und im 2. Stock die Wohnräume der Bewährungsfamilie, auch Straffamilie genannt. Dort gab es auch einen Karzer mit Glasbausteinen als Fenster. In der Ruine der Druckerei befand sich im Keller der Schweinestall, und darüber hatten die Handwerker ihre Werkstätten.
Für die Reparaturen an diesen Häusern wurden Ziegelsteine benötigt, die wir aus den Ruinen herausholten. Wenn Unterrichtsstunden ausfielen, holten wir uns vom Vogt einen Maurerhammer, putzten den alten Kalkmörtel ab und setzten die Steine zu Haufen von 100 Stück auf, die der Vogt dann kontrollierte. Dafür gab es einen Fernsehgutschein, sonst mussten wir für die Teilnahme am frisch eingeführten Fernsehen nach dem Abendessen 10 Pfennig bezahlen, soweit wir überhaupt Zeit dazu hatten. Es gab nur den einen abschließbaren Fernsehapparat im Sievekingssaal für die ganze Anstalt mit 220 Jungen und 60 Diakonenschülern.
Die Erziehung im Rauhen Haus beruhte auf dem von Wichern begründeten Familienprinzip, wobei jeweils zwei Diakonenschüler je nach Größe der Räume etwa acht bis zwölf Jungen betreuten. Der Familienleiter war meistens schon ein oder mehrere Jahre in der Erziehungsarbeit tätig und stellte die väterliche Autorität dar. Der Familiengehilfe sollte mehr ausgleichend und mütterlich wirken. Er durfte nichts ohne Einverständnis des Familienleiters unternehmen und konnte bei Bedarf auch zu anderen Arbeiten herangezogen werden. So hatte ich als Gehilfe im Haus Kastanie auch noch die beiden Koksheizungen von Kastanie und Schönburg zu versorgen. Wenn Werbebriefe an den Freundeskreis des Rauhen Hauses verschickt werden sollten, saßen wir abends im Haus Tanne und falteten die Bettelbriefe. Dabei durften zur Auflockerung auch die Haustöchter mithelfen, und es wurde viel gesungen.
Unser „Studientag“ sah etwa folgendermaßen aus: Um 6 Uhr wurden die Jungen geweckt. Wir schliefen mit ihnen gemeinsam in einem Zimmer in Doppelstockbetten, immer das Schlüsselbund unter dem Kopfkissen. Anschließend mussten wir die Jungen beim Waschen im Waschraum beaufsichtigen und sie danach geschlossen zum Frühstück im Speisesaal der alten Schule begleiten. Wenn die Jungen sich alle auf den Schulweg gemacht hatten, versammelten wir Diakonenschüler uns um 8 Uhr bei Brüder Füßinger in seinem Büro im Haus Tanne zum „Pädagogischen Praktikum“, in dem die täglich anfallenden Erziehungsprobleme besprochen wurden. Um 9 Uhr begann der Unterricht. Wir waren in unserer Klasse D II 1955 zu Anfang 12 Diakonenschüler, zum Examen in der D I 1959 nur noch 9. Um 12 Uhr war der Unterricht beendet, und wir mussten in die Familien, um die aus der Schule heimkehrenden Jungen in Empfang zu nehmen. Waren alle zusammen, gingen wir mit ihnen in den Speisesaal zum Mittagessen. Nachmittags mussten wir die Jungen bei den Schularbeiten beaufsichtigen. Da wir immer mehrere Gymnasiasten in unserer Familie hatten, kamen mir meine Englisch- und Lateinkenntnisse sehr zugute. Nach der Kaffeepause konnten die Jungen je nach Interessen auf dem Hof vor dem Hause Ball spielen oder bei schlechtem Wetter drinnen basteln. Ich habe in der Stadt Mosaiksteine besorgt, mit denen sie die damals beliebten Blumentische als Weihnachtsgeschenke für die Eltern bauten. Auch Blumenampeln aus Bast, Peddigrohr oder Bambus waren als Bastelei sehr begehrt. Abends konnten die Jungen noch lesen oder für 10 Pfennig zum Fernsehen gehen. Im Sommer sind wir ins Schwimmbad Horner Moor gegangen oder haben auf der Autobahnbrücke die Autotypen gezählt. Am Sonntag gingen wir zu Fuß in unterschiedliche Hamburger Kirchen, besonders gerne in den Michel, wenn dort Professor Helmut Thielicke oder Bischof Herntrich predigten. Mit Bruder Will, meinem Familienleiter, habe ich mich gut verstanden. Er hatte seine Freundin in Island und auch Verständnis, wenn Ilse mal zu Besuch kam. In die Anstalt durfte sie ja nicht, und sie wartete dann in „Wicherns Eck“, einer Kneipe am Rhiems-Weg. Wir hatten uns vorgenommen, später mal ein Heim zu leiten, und so war sie ins Diakonissenmutterhaus nach Rothenburg gegangen, um dort die Großküche zu lernen. Manchmal fuhr ich auch nach Harburg, wo wir uns auf dem Bahnhof trafen, weil sie dort umsteigen musste, wenn sie nach Hause fuhr. Selten hatte ich mal einen freien Sonntag, an dem wir in Planten un Blomen oder an der Alster spazieren gehen konnten. Einige Wochen war Bruder Lothar Schulz krank, der damals Hausbruder war. Da musste ich dann die Koksheizungen der Häuser Tanne, Goldener Boden und Bienenkorb neben meinen beiden Heizungen auch noch mit versorgen. Besonders hart war der Bienenkorb an Waschtagen. Da musste ich oft vom Unterricht fortlaufen und Koks nachschaufeln.
Der Unterricht begann mit schulwissenschaftlichen, also allgemeinbildenden Fächern, da wir auch einige Brüder mit Volksschulabschluss unter uns hatten. Das Examen nannten wir Schwachbegabtenabitur. Es war Voraussetzung zur Zulassung für das spätere staatliche Wohlfahrtspflegerexamen. An manchen Abenden hatten wir auch „Benimmunterricht“ nach Knigge, bei dem uns Tanzlehrer Wendt auf Pastor Donndorfs Initiative bürgerliche Umgangformen beibrachte. Die richtige Anrede etwa im Verkehr mit Vertretern des Hochadels war wichtig für uns, da einige dieser Spezies ihre Sprösslinge im Rauhen Haus erziehen ließen. Fräulein Esmarch, die Sekretärin Pastor Donndorfs, brachte uns das Zehnfingersystem auf der Schreibmaschine bei. Bei mir hatte sie damit wenig Erfolg, denn bis heute schreibe ich nach dem Adler-Sytem: Kreisen, spähen, zuschlagen, einige nennen es auch Palästinensersystem: Jeden Tag ein Anschlag. Einmal in der Woche kam Bruder Maaz, der Posaunenwart, und bemühte sich, uns das Tröten beizubringen. Meine Eltern hatten mir in der DDR eine Trompete besorgt. Aber ich galt bald als hoffnungsloser Fall und Bruder Maaz meinte zu mir: „Mach, dass du wegkommst, du hast von Tuten und Blasen keine Ahnung!“ Ich habe dann meine Trompete verscherbelt und mir für das Geld eine Schreibmaschine gekauft. Den theologischen Unterricht hielt ich im Gegensatz zu anderen Mitbrüdern nicht für besonders ergiebig. Er wurde den beiden theologisch-diakonischen Klassen von Hamburger Pastoren in den Fächern Altes (Kreye, Hamm) und Neues Testament (Alfred Krüger, Dulsberg), Ethik (Krüger), Dogmatik (Gregor Steffen, Eilbek), Kirchengeschichte (Büttner, RH) erteilt. Der Unterricht im Fach Wortverkündigung bei Pastor Donndorf fiel häufig aus, da er immer wieder zu wichtigen Terminen außerhalb des Rauhen Hauses weilte. Bei Fiete Jahnke lernten wir die Geschichte der Inneren Mission kennen. Das Fach Jugendarbeit unterrichtete der frühere Landesjugendpastor und spätere Bischof Dr. Hans-Otto Wölber. Pastor Krüger führte uns auch sehr engagiert in klassische (Goethes Faust) und moderne Literatur (Borchert, Sartre, Anna Seghers, Gilbert Cesbron, Edzard Scharper) ein. Weihnachten bekam ich Urlaub und erstmals eine Aufenthaltsgenehmigung zum Besuch meiner Eltern in Müllrose.
Während des zweiten Unterrichtsjahres blieb mir der Erziehungsdienst im Rauhen Haus erspart, denn Bruder Giering hatte mich für seine Flussschiffergemeinde angefordert. Es war für mich ein schönes Jahr, und ich hatte viele Freiheiten. Die schwimmende Flussschifferkirche war eine alte Munitionsschute, die mit Spenden aus Schweden als kombinierter Kirchen- und Gemeinderaum umgebaut worden war. Der Küster Kuhnert wohnte auf dem Schiff und läutete sonntags die Glocke. Die Kirche lag damals am Marktkanal an der Elbbrücke. Ich machte Schiffsbesuche und half in der Jugendarbeit und beim Kindergottesdienst. Mit der Jungschar baute ich Segelflugmodelle, die wir am Gemeindetag den Eltern vorführten. Abends hatten wir manchmal 70 Jugendliche im Kreis, Jungen und Mädchen gemischt. Da wurde viel gesungen, Geschichten erzählt oder Spiele gemacht. Mit der Jungschar habe ich in den Ferien Fahrten unternommen, und an manchem Sonntag habe ich auch Kindergottesdienst gehalten, wenn Bruder Giering frei hatte und Pastor Suhr predigte. Zur Weihnachtsfeier hatte ich mit der Jugend ein Theaterstück eingeübt.
An den Vormittagen nahm ich im Rauhen Haus am Unterricht der ersten Wohlfahrtspflegerklasse W II teil. Die Fächer vermittelten uns Grundwissen in Rechtskunde, besonders im Familienrecht des BGB, Jugendwohlfahrts- und Jugendstrafrecht, Fürsorgerecht, Gesundheitskunde mit Erster Hilfe, Sozialpolitik, Volkswirtschaft, Psychologie, Pädagogik und Geschichte der Pädagogik. Der Unterricht dieses Jahres machte mir wirklich Spaß. Ostern 1957 kamen wir in die Klasse W I und hatten uns intensiv auf das staatlich beaufsichtigte Examen vorzubereiten. Da wichtige Gesetzesänderungen im Sozialbereich in Vorbereitung waren, mussten wir einige Paragraphen büffeln, die bald überholt sein würden. Unsere Dozenten gaben uns aber ein gutes Rüstzeug für die spätere soziale Arbeit mit auf den Weg. Ab Oktober 1957 absolvieren wir zwei vierteljährige soziale Behördenpraktika. Für die letzten drei Monate vor dem Examen wurden wir von praktischer Arbeit freigestellt, um uns gründlich auf die Prüfung vorbereiten und unsere Jahresarbeit schreiben zu können und bekamen trotzdem unser monatliches Taschengeld in Höhe von 25 DM ausgezahlt.
Neben dem alten Handwerkerhaus war ein schöner Neubau mit Räumen für Erziehungsfamilien und Wohnung für Bruder Potten, den neuen Hausvater, entstanden, das Wichernhaus. Im oberen Stockwerk gab es viele Einzelzimmer, die wir Wohlfahrtspflege-Examenskandidaten beziehen durften. Sie waren aber so eng, dass das Klappbett hochgeklappt werden musste, wenn man zur Tür hinaus wollte. Im Treppenaufgang befand sich ein schönes Mosaik mit dem Motiv „Gott ist Sonne und Schild“ nach dem Hauspsalm des Rauhen Hauses. Im Wichernhaus war auch ein kleiner Versammlungsraum entstanden, in dem ein neues Gemälde Gotthold Donndorfs aufgehängt worden war. An der Decke waren mehrere künstliche Gewölbe gestaltet, daher nannten wir es das Tönnchenzimmer. In diesem Raum feierten wir abends mit unserer Klasse, wenn jemand Geburtstag hatte. Das Geburtstagskind bekam immer einen Napfkuchen vom Rauhen Haus spendiert und öfter schickten die Eltern des Bruders oder seine Freundin einen „Kalten Hund“, einen damals beliebten Kuchen aus Keksen, Palmin und Kakao. Bruder Füßinger kam meistens zu später Stunde von sich aus dazu und zeigte eine ganz andere Seite seines Wesens als die gewohnte Fassade der Autoritätsperson. Wir konnten uns dann recht brüderlich mit ihm unterhalten. Er fragte immer sehr bescheiden: „Kann ich auch ein Stück von dem Mutterkuchen haben?“ Unser Unterricht fand jetzt in den Kellerräumen des neuen Wichernhauses statt.
Wohlfahrtspflegerexamen bestanden
Nach dem Wohlfahrtspflegerexamen wurde ich wieder in den Erziehungstrott des Rauhen Hauses eingegliedert. Dieses letzte Ausbildungsjahr galt gleichzeitig als Anerkennungsjahr für die staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspfleger. Der aus dem englischen Sprachraum übernommene Terminus Sozialarbeiter war damals in Deutschland noch nicht üblich. Ein eventueller Abbruch der Diakonenausbildung nach dem Wohlfahrtspflegerexamen war wegen des Jahrespraktikums ohnehin kaum realisierbar. Ich hatte noch keine eigene Familie bekommen und sollte für einige Wochen einen Familienleiter vertreten. Als ich Bruder Füßinger etwas vorlaut fragte, ob ich dann auch das Familienleiter-Taschengeld bekäme, das waren immerhin 30 DM im Monat, sah er mich ziemlich böse an und entgegnete: „Wenn ich Pastor Donndorf vertrete, bekomme ich auch nicht sein Gehalt. Dann ist das eine Ehre für mich, dass ich es darf.“ ... Soweit ich mich erinnere, hatten wir neun Jungen, fast alle recht umgänglich. Einer kam aus Südamerika und hatte deutsche Großeltern. Sorge machte mir ein Junge aus St. Pauli, der öfter die Schule schwänzte. Ich habe mit ihm gewettet, dass er später nie einen ordentlichen Beruf erlernen würde – und habe die Wetter verloren. Er kam später in Bundeswehruniform zu mir, zeigte mir seinen Bäcker-Gesellenbrief und verlangte seinen Kasten Bier, den ich ihm dann auch bezahlt habe. Schlagen durften wir die Jungen nicht...
Das Rauhe Haus bekam damals noch immer Spenden aus Amerika: Milchpulver, 25 kg-Pakete „Missionskäse“ und gebrauchte Kleidung. Zusammen mit der Blutwurst aus der eigenen Schlachtung auf Brot und mit Kartoffeln gebraten waren das die wichtigsten Bestandteile unserer Ernährung. Da ich den ganzen Tag nur saß, vormittags im Unterricht, nachmittags mit den Jungen bei den Schularbeiten und abends bei unserem eigenen Lernstoff, ging ich ganz schön auseinander. Wenn neue Säcke mit Kleiderspenden kamen, durften die Nichtraucher zuerst in den Spendenkeller und sich gegen eine geringe Gebühr etwas heraussuchen...
Im Jahre 1958 wurde die 125-Jahr-Feier des Rauhen Hauses ganz groß im Wichernsaal begangen. Meine Jungen hatten in einer Theateraufführung eine Szene vorzuführen, in der im ersten Weltkrieg ein Bruder Soldat wird und die Jungen ihn verabschieden.
Inzwischen war Pastor Donndorf nach Vollendung seines 70. Lebensjahres in den Ruhestand gegangen und Propst Prehn aus Husum wurde sein Nachfolger. Er erteilte uns sehr spannenden Unterricht in Kirchengeschichte. Auch Bruder Jahnkes Informationen über die Geschichte der Diakonie interessierten mich. Neben dem Diakonenexamen sollten wir noch die Prüfung als Religionslehrer und Kirchenbuchführer machen. Viele Brüder wollten sich mit dem trockenen Stoff der Kirchengesetze und dem kirchenamtlichen Formularwesen nicht abgeben, aber Bruder Füßinger sagte ganz autoritär: „ Denken Sie auch mal an das Alter, wenn Sie in der Jugendarbeit und als Treppenterrier nicht mehr können, dann haben sie wenigstens einen Stuhl in einem warmen Zimmer.“ Die Dozenten arbeiteten auf Honorarbasis. Etliche spendeten ihr Honorar jedoch dem Rauhen Haus. Zu den humansten Dozenten gehörte „Fiete“ Biehn, Kirchenmusikdirektor am Michel und Glockenbeauftragter der Hamburger Landeskirche, der das Fach Kirchenlied lehrte. Er meinte: „Ich gehöre nicht zu den Dozenten, die meinen, dass mein Unterricht der wichtigste ist. Wenn Sie etwas dringendes zu erledigen haben, können Sie ruhig mal wegbleiben.“ Aus ganz anderem Holz dagegen war Pastor Hennig, Sohn des früheren Anstaltsdirektors, bei dem wir das Fach Liturgie hatten. Er nahm sich sehr wichtig, sein Unterricht war trocken und langweilig und er konnte sagen: „Wenn die Brüder das nicht lernen, was ich aufgebe, werde ich dafür sorgen, dass sie mit der Schubkarre durch die Anstalt fahren.“ Mein größtes Problem war Pastor Gregor Steffen und seine Dogmatikvorlesungen. Da mussten wir büffeln, welcher Kirchenvater welche Meinung über Jesu menschliche und göttliche Existenz hatte. Für ihn war seine Dogmatik der Mittelpunkt der Theologie. Eigentlich sollte unser Diakonenexamen von Landesbischof Volkmar Herntrich, einem persönlichen Freund Wolfgang Prehns, abgenommen werden, aber einige Wochen vorher verunglückte er tödlich, als sein Auto auf der Fahrt nach Berlin auf der Transitstraße auf einen unbeleuchteten sowjetischen Panzer auffuhr. Das war ein herber Schlag für die Hamburger Kirche und auch für Propst Prehn in seinem neuen Amt als Vorsteher des Rauhen Hauses. Zu den ungeschriebenen Gesetzen gehörte auch, dass wir zur Einsegnung als Diakon in der Hammer Kirche im schwarzen Anzug zu erscheinen hatten. Da unser Geld für den Kauf eines solchen nicht reichte, wurden von unserem Taschengeld monatlich 5 DM einbehalten, die wir zum Examen zum Anzugkauf ausgezahlt bekamen. So hatte ich gleich einen Hochzeitsanzug, der mir auch heute noch passt.
1959 ging es Schlag auf Schlag. Am 2. März legten wir das Diakonenexamen ab und am 16. März die Verwaltungsprüfung, alles neben der Erziehungsarbeit. Ich hatte mir beim Tischler zwischendurch schon zwei Bücherregale und einen Musikschrank für Schallplatten gebaut. Als Weihnachtsgeschenk hatte ich für Ilse ein geschnitztes Schmuckkästchen gebastelt und als Hochzeitsgeschenk eine Blumenbank mit Mosaiksteinen. Als Motiv hatte ich eine Gondel als Erinnerung an Venedig und fünf Kreuze für die fünf Jahre, die wir aufeinander warten mussten, eingearbeitet.
Im Gegensatz zu anderen Brüderhäusern, etwa Nazareth/Bethel, galt im Rauhen Haus seit Ende des Ersten Weltkrieges kein Sendungsprinzip mehr. Da das Rauhe Haus jedoch um 1959 sehr viele Anfragen aus ganz Deutschland nach Gemeindediakonen, Heimleitern, Jugend- und Trinkerfürsorgern bekam, sah Propst Prehn es gerne, wenn man sich in die erste Stelle nach der Ausbildung durch das Rauhe Haus vermitteln ließ. Bruder Füßinger war zu der Zeit neben seinen Aufgaben als Inspektor des Rauhen Hauses auch als Brüderältester tätig und hatte große Erfahrungen im Aushandeln von Dienstverträgen.
Erste Stelle als Diakon: Hausvater des Lehrlingsheimes in Schwelm
Mir bot er eine Stelle als Hausvater eines Lehrlingsheimes in Schwelm in Westfalen an... Die Stelle wurde uns zum 1. August 1959 zugesagt. Bruder Füßinger setzte es durch, dass Ilse als erste Diakonenfrau ihr eigenes Gehalt als Hausmutter erhielt. Vorher hatten die Hausmütter in den Heimen nur 50 DM Taschengeld bekommen. Meine Anstellung samt Gehaltszahlung lief offiziell ab 1. Mai 1959, wobei die Vergütung zunächst an das Rauhe Haus überwiesen wurde. Bis zu unserem Beginn in Schwelm arbeitete ich in der Tischlerei des Rauhen Hauses und erhielt neben freier Unterkunft und Verpflegung ein Taschengeld... Da wir die Wohnung vorher nicht sehen konnten, erhielten wir eine Bauzeichnung mit den Maßen der 3 ½ Zimmer.
Am 1. August fand dann die Übergabe im Beisein des Geschäftsführers B., von Beruf Leiter des Finanzamtes, statt. Der Vorstand hatte sieben Mitglieder, und ich durfte ohne Stimmrecht an den Sitzungen teilnehmen. Es entwickelte eine wirklich gute Zusammenarbeit. Mein größter Kummer waren die übernommenen Schulden von 3.000 DM unbezahlter Heimkosten, damals viel Geld. Etwa die Hälfte davon bekam ich durch Lohnpfändungen wieder herein. Das Heim hatte 60 Plätze, die aber nicht mehr alle mit Lehrlingen belegt werden konnten. So nahm ich auch Gesellen und Hilfsarbeiter auf. Außerdem kamen damals die ersten Gastarbeiter aus Spanien, Italien und Griechenland.
Bei uns wohnte auch ein indischer Ingenieur, der in einer Gießerei für ein Jahr ein Praktikum machte. Zeitweilig wohnte auch ein leitender Angestellter des Arbeitsamtes im Hause, der nach Schwelm versetzt worden war und am Wochenende zu seiner Familie nach Frankfurt fuhr. Im Hause herrschte frohes Jugendleben, besonders an den Wochenenden. Mein Büro lag am Hauseingang. Freitags musste ich die Selbstzahler immer abfangen, damit sie auch ihre Miete bezahlten. Bei unsicheren Kandidaten holte ich die Miete auch direkt im Lohnbüro der Betriebe ab. Für manche Lehrlinge, die aus der Fürsorgeerziehung kamen, schickten die Jugendämter das Geld, und ich musste ihnen das Taschengeld auszahlen. Oft mussten auch noch Führungsberichte geschrieben werden. Es gab also viel Schreibkram, den ich tagsüber zu erledigen hatte. Ich war stolz darauf, dass ich sogar Sonderschüler aus dem Fürsorgeheim Loher Nocken in Ennepetal in Lehrstellen unterbringen konnte, aber abends musste ich ihnen dann beim Führen der Berichtshefte und bei den Aufgaben der Berufsschule helfen...
... konnten wir zusammen sonntags mit kleineren Gruppen oft Ausflüge machen, z. B. nach Köln, Wuppertal, Schloss Burg und zum Altenberger Dom. An den Wochenenden brachte ich unsere Fußballmannschaft auch öfter zu Spielen gegen umliegende Lehrlingsheime. Einen großen Kellerraum stellte ich zum Tischtennisspielen zur Verfügung. Die Decke isolierten die Lehrlinge gegen Schall mit Eierpappen und dekorierten die Wände mit Bierdeckeln. Zu Anfang musste ich noch die Koksheizung bedienen, aber durch großzügige Spenden von Dr. Albano Müller und anderen Betrieben konnten wir eine Ölfeuerung anschaffen und den Kokskeller als Werkstatt einrichten. Der Öltank kam in einen neuen Keller, über dem wir eine Garage mit Fahrradraum errichteten. Etliche Lehrlinge halfen mir bei den Reparaturen und Umbauten. Für die Mithilfe schaffte ich einheitliche Trikots für die Fußballmannschaft an. Leider wurden es immer weniger Lehrlinge, da viele bereits an ihren Heimatorten in Niedersachsen und Schleswig-Holstein Lehrstellen bekommen konnten oder die Eltern nach Schwelm zugezogen waren und die Jugendlichen wieder zu sich nahmen. Die älteren Gesellen gingen lieber ins benachbarte Kolpinghaus, wo sie größere Freiheiten hatten. Das Ende des Lehrlingsheims kam mit dem Mauerbau am 13. August 1961, als keine Jugendlichen mehr aus der DDR über das Auffanglager Stukenbrock kamen. Von den 60 Plätzen waren nur noch 30 belegt, und das war unterhalb der Rentabilitätsgrenze. So machte ich dem Vorstand den Vorschlag, das Heim zu schließen und erhielt den Auftrag, mich nach einer Nachfolgeeinrichtung umzusehen. Das Johanneum in Wuppertal musste sein Haus aufgeben, aber denen war unser Grundstück zu klein und das benachbarte Altenheim wollte seinen Garten nicht hergeben. Die Anstalten in Volmarstein hätten das Haus gerne als Außenstelle für ihre Behinderten genommen, aber sie verlangten Wasser auf den Zimmern und einen Aufzug. So blieb das Haus längere Zeit leer und dient heute als Kreiskirchenbüro. Mir fiel die traurige Aufgabe zu, die verbliebenen Lehrlinge anderweitig unterzubringen...
Kindererholungsheim in Bad Rothenfelde
Also besichtigten wir das Haus in Bad Rothenfelde. Das hatte Superintendent Bruhne erst kurz zuvor von der Inneren Mission Osnabrück gekauft, weil es denen zu unwirtschaftlich geworden war. Es war vor etwa 100 Jahren im Betheler Baustil mit 4 Meter hohen Zimmern errichtet worden. Eine Heimleiterwohnung gab es nicht, weil das Haus immer von einer Diakonisse geleitet worden war. Als wir ankamen, waren für uns noch zwei kleine Dachstuben frei. Später sind wir innerhalb des Hauses noch mehrere Male umgezogen. In einem ungeheizten Nebengebäude befand sich noch ein riesiger Saal mit etwa 30 Doppelstockbetten. Wir hatten in den Ferien etwa 120 Kinder im Hause, einige Gruppen auch mit Betreuerinnen. Für die Saison stand uns eine eigene Kindergärtnerin zur Verfügung. Es blieb mir nichts übrig, als selber mit größeren Gruppen Spaziergänge im Wald zu machen, mit ihnen ins Badehaus zu gehen und bei den Untersuchungen durch den Badearzt die nötigen Notizen zu machen. In der Küche hatten wir zwei junge Frauen, jede mit Kind, so dass wir nebenbei noch vier Personalkinder zu betreuen hatten. Eine größere Gruppe kam von der Schultheiß-Brauerei aus Berlin, die zum Bielefelder Dr.-Oetker-Imperium gehörte. Als die Werksfürsorgerin zu Besuch kam, merkte sie, dass wir kaum Spielzeug für Regentage hatten. Sie hat dann dafür gesorgt, dass wir eine größere Spende aus Bielefeld bekamen. In flauen Zeiten nach den Ferien schrieb ich die Kirchenkreise an und bot das Haus für Altenerholung und Weihnachtsfreizeiten für Einsame an. Dazu mussten die Doppelstockbetten abgebaut und durch Holzbetten für Erwachsene ersetzt werden. Für mehrere Wochen bekam ich zwei Betriebshandwerker gestellt, die in den Räumen die alte Leimfarbe durch Tapeten ersetzten. Nach und nach hatte ich auch die vielen Keller entrümpelt und alles unnötige Zeug verbrannt. Aus einem Keller machte ich dann eine Garage für mein Auto. Jede Woche fuhr ich mit Ilse zum Einkauf im Großhandel nach Münster... Über die Finanzen unseres Hauses hatte ich keinen Überblick, da alle Verwaltungsarbeiten in Handorf erledigt wurden. Wenn Superintendent Bruhne zu Besuch kam, brachte er immer einen Karton Bücher für unsere Bücherei mit. Später erfuhr ich, dass die Diasporaanstalten eine eigene evangelische Buchhandlung in Burgsteinfuhrt betrieben, die aber nicht so recht florierte. Anfang 1963 erhielt ich dann einen Jahresabschluss, nach dem ich mit mehreren Tausend Mark im Defizit stand. Als Bruder Füßinger uns besuchte, sprach ich mit ihm darüber, und wir fuhren nach Emsdetten zu Superintendent Bruhne, weil der Anstellungsvertrag noch nicht unterschrieben war. Einige Wochen später rief mich Bruder Jahnke aus Hamburg an und sagte mir, dass ich bei ihm im Altenheim der Marthastiftung in Rahlstedt als Heimleiter anfangen könne, da die leitende Diakonisse aus Volksdorf in den Ruhestand gehe. Wir kündigten. Bei der Verabschiedung schenkte mir Superintendent Bruhne aus der Bibliothek das Buch „Die Evangelische Kirche im Münsterland“, das er geschrieben hatte. Ich lese noch heute oft darin. Zu Ilse sagte Bruhne: „Ich glaube, wir werden Sie in besserer Erinnerung behalten als Sie uns.“ Einige Jahre später wurde das Haus erst für viele Millionen renoviert und dann bald darauf verkauft und abgerissen.
Marthastiftung in Hamburg-Rahlstedt
Die Marthastiftung am Berliner Tor war während des Krieges zerstört worden. Mit dem Entschädigungsentgelt und mehreren Darlehen hatte Bruder Jahnke auf einem geschenkten Grundstück in Rahlstedt ein kleines Altenheim erbaut, sehr zum Unwillen der Nachbarn. Als ich die Heimleitung 1963 übernahm, waren aus den 60 Plätzen durch einen Neubau auf einem zugekauften Nachbargrundstück bereits 100 Plätze geworden. Der Neubau war vorwiegend mit Geldern finanziert worden, die für die Unterbringung der „Desperated Persons“ aus dem Funkturmlager bestimmt waren. Das waren Russen, Polen, Balten und Jugoslawen, die nicht wieder in ihre Heimatländer zurückkehren konnten, aber wegen Krankheit oder Alter auch nicht zu ihren Kindern nach Amerika auswandern durften. Es waren trotz langen Lagerlebens meistens ordentliche Leute, aber auch einige Ekelpakete darunter... Das Heim war mit einer langen Vormerkliste immer gut belegt. Die Heimkosten waren damals noch relativ gering, so dass wir etwa 2/3 Selbstzahler unter den Bewohnern hatten.
Die kamen zum Ersten jeden Monats ins Büro, um ihre Miete zu zahlen. Von dem Geld habe ich dann gleich die Löhne und das Taschengeld für die vom Sozialamt finanzierten Bewohner ausgezahlt. Die Rechnungen konnten wir beim Sozialamt immer erst drei Monate nachträglich einreichen. Es dauerte dann weitere zwei Monate, bis sie geprüft und bezahlt wurden. Außerdem musste ich täglich eine Anwesenheitsliste führen, da für Zeiten von Urlaub oder Krankenhausaufenthalt nicht voll gezahlt wurde. Die Berechnung der Löhne war damals noch einfach. Die Prüfungen durch Krankenkassen und Finanzamt ergaben bei unserem Personalstand von 30 Personen nie Beanstandungen. In der Küche hatten wir ausreichend und gutes Personal und auch mit den Putzfrauen keine Schwierigkeiten...
Mit Bruder Jahnke hatte ich ein gutes Verhältnis. Er kam jeden Monat einen Nachmittag nach Rahlstedt, und wir haben alles Notwendige besprochen. Er hatte auch noch wieder Nachbargrundstücke hinzugekauft und plante den Neubau eines Pflegeheimes, da wir nur über ein Pflegezimmer mit vier Betten verfügten. Außerdem sollte die Küche vergrößert und eine neue größere Waschküche eingerichtet werden. So fuhren Ilse und ich mit dem Architekten zur Besichtigung von Neubauten, und er hat auch alle unsere Wünsche berücksichtigt, so dass die Bauarbeiten bald beginnen konnten. Die erforderlichen Gelder hat Bruder Jahnke irgendwie zusammengebracht...
Altenheim in Boppard
Auf eine Anzeige hin schrieb ich an das Diakonische Werk Düsseldorf, das für ein Altenheim in Boppard einen Heimleiter suchte, und erhielt einen Termin zur Vorstellung. Das ehemalige Familienhotel der Inneren Mission in Boppard war nach dem Kriege zum Flüchtlingsaltenheim umgewandelt worden. Das Haus war etwa 100 Jahre alt, und die Grundmauern hatten sehr unter dem ständigen Hochwasser des Mühlbachs gelitten. Es war an die Stadt Boppard verkauft worden und sollte abgerissen werden, um einen Parkplatz für die Seilbahn zum Vierseenblick zu schaffen. Im Park auf der anderen Straßenseite war schon ein Neubau entstanden, aber noch lange nicht bezugsfertig. Da wir drei Monte Kündigungsfrist einzuhalten hatten, sollte bis dahin angeblich alles fertig sein. Als ich am Abend wieder nach Hause kam, sagte ich zu Ilse: „Ich glaube, diesmal haben wir uns verkauft“, was sich später auch bewahrheitete. Bruder Jahnke sagte mir später mal: „Wenn Du mir damals gesagt hättest, dass Du bei der Firma anfangen willst, hätte ich Dir gesagt: Lass die Finger davon!“ Da Bruder Reimer die neue Arbeit nicht so schnell aufnehmen konnte, übernahm Bruder Jahnke für mehrere Monate selber die Heimleitung, da er inzwischen pensioniert worden war...
Als wir in Boppard ankamen, war die Wohnung natürlich noch nicht fertig, und wir zogen in zwei Zimmer. Dort fuhren auf der Bahnstrecke direkt vor unserem Fenster jeden Tag 300 Züge in beiden Richtungen vorbei. Zwischen den beiden Häusern verlief die vielbefahrene Bundesstraße, und hinter dem Neubau floss der Rhein, der im Frühjahr kräftig Hochwasser führte, das bis in die Hausmeisterwohnung kam... Das Heim war ziemlich heruntergewirtschaftet. Innerhalb von 10 Jahren hatte es sieben Heimleiter erlebt...
Das alte Haus war inzwischen abgerissen worden, und es sollte der Boden planiert werden. Dabei stießen die Arbeiter auf alte Mauerreste, teils römischen, teils fränkischen Ursprung. Ich ging dann in den Mittagspausen hinüber und versprach den Arbeitern, dass sie für jede Scherbe eine Zigarre bekämen. So bekam ich dann römische „Terra Sigelata“, belgische „Rauhware“ und fränkische „Siegburger Keramik“. Der Ursprung war also ein römischer Bauernhof an der Mündung des Mühlbachtales in den Rhein, dem später der fränkische Königshof folgte und dann die Kaiserpfalz, bis Erzbischof Balduin von Trier sie vom Kaiser als Wahlgeschenk bekam. Bald darauf kamen auch die Archäologen des Koblenzer Museums. In dieser Zeit fanden auch Ausgrabungen an der Severiuskirche auf dem Marktplatz statt. Sie ergaben, dass die Kirche an der Stadtmauer aus einer römischen Badeanstalt entstanden war. Überall in Boppard waren noch Teile der römischen Stadtmauer erhalten. Ich habe mich damals viel mit der römischen und mittelalterlichen Geschichte befasst und war auch Mitglied der Deutschen Burgenvereinigung, die eine interessante Zeitschrift herausbrachte. Wenn Ilse am Sonntag Nachmittag Ruhe haben wollte, nahm ich die drei Kinder, und wir fuhren in den Hunsrück oder Westerwald und besichtigten Kirchen und Burgen. Im Sommer 1967 wurde Elisabeth in die Evangelische Volksschule eingeschult. Im Rheinland waren die Schulhöfe nach Konfessionen streng getrennt, und ihre Freundschaften mit den katholischen Nachbarskindern waren vorbei. Ansonsten gingen in Boppard die Konfessionen sehr tolerant miteinander um, auch schon wegen der vielen Touristen...
Ich hatte so etwas schon kommen sehen und Verbindungen zu Bruder Rosenberger nach Wildeshausen aufgenommen. Ich hatte mich bereits zwei Jahre zuvor um die Stelle beworben...
Karlheinz Franke übernahm anschließend ein Altenheim in Wildeshausen. Er berichtet darüber:
Das Haus war nicht nur Alters-, sondern auch Pflegeheim für jüngere geistig behinderte Menschen. Den günstigen Pflegesatz, der auch für mehrere Selbstzahler galt, konnten wir nur durch die eigene Landwirtschaft von 10 ha, den relativ hohen Viehbestand und die Mithilfe der Pfleglinge im Rahmen der Arbeitstherapie erreichen. So schlachteten wir jedes Jahr zwei Kühe und drei Schweine sowie viele der etwa 80 Hühner und hatten unsere eigene Milch, Kartoffeln und Gemüse. Ein Teil der landwirtschaftlichen Erzeugnisse wurde auch verkauft. Die Preise für Verkauf und Eigenbedarf musste ich jeweils anhand der Landwirtschaftszeitung berechnen. Die zu bewirtschaftenden 10 ha bestanden zum Teil aus eigenem, aber auch aus Pachtland, das wir mit zwei Pferden beackerten. Zu Anfang hatten wir an sieben verschiedenen Stellen der Stadt Weideland. Wenn eine Weide von den etwa 5 Rindern abgefressen war, mussten wir sie am Strick durch die Straßen der Stadt zur nächsten Weide führen. Auch die Wege zum Melken morgens und abends waren sehr beschwerlich. Schwierig war es auch, das Heu zu machen und einzufahren. Dafür hatten wir aber schon eine Pferdemähmaschine. Anfangs haben wir das Getreide noch mit der Sense gemäht und mit der Hand gebunden und aufgestellt. Später haben uns benachbarte Landwirte unser Getreide gemäht und wir haben ihnen dafür beim Aufstellen der Garben geholfen. Die ersten Jahre hatte ich noch den landwirtschaftlichen Gehilfen meines Vorgängers, Herrn Fischer, zur Verfügung, der dann aber bald in Rente ging. Er kam trotzdem noch jeden Tag zu uns, weil es ihm zu Hause zu langweilig wurde. Er war früher in Ostpreußen Gutsgärtner gewesen, und ich habe viel von ihm gelernt. Als nach einem Sturm 1972 die Brennerei Kollerge geschlossen wurde, übernahm ich deren landwirtschaftlichen Arbeiter, Herrn Wagner. Der hatte wenigstens einen Führerschein, und ich schaffte für 550 DM einen gebrauchten Trecker an. Leider wurde dann bald ein neues Getriebe fällig. Die beiden großen Pferde wurden verkauft, und dafür habe ich einen Norweger für die Melker angeschafft und einen kleinen Wagen dafür gebaut.
Morgens nach dem Frühstück und nach der Mittagspause kamen die mithelfenden Pfleglinge auf der Diele des Stalles zusammen, und dann habe ich jedem seine Arbeit zugeteilt, je nach Fähigkeiten und Wetterlage.
Als unsere Tochter Christiane in die Schule kam und die Lehrerin die Kinder nach dem Beruf der Väter fragte, antwortete das Kind: „Mein Vater ist Bauer.“ Als die Lehrerin weiter fragte, was der Vater denn so als Bauer mache, kam die Antwort: „Der passt auf, dass die anderen alle was tun.“ So hatte ich etwa 8 Leute, die ich beschäftigen musste, und Ilse hatte in der Küche noch 6 Frauen einzusetzen. In den Jahren 1974 bis 1979 hat der Landkreis viel Geld in das Heim investiert. Wir erhielten einen neuen Trecker und die dazugehörigen Maschinen nebst Miststreuer und Gummiwagen. Außerdem bekamen wir ein Gewächshaus, damit die Leute auch bei Regenwetter und im Winter geschützt beschäftigt werden konnten. Da haben wir viele Gurken und Tomaten geerntet. Die meisten Pfleglinge holte ich aus dem Landeskrankenhaus Wehnen, weil die Pflegesätze für den Landkreis in unserem Hause erheblich günstiger waren. Aber wir hatten auch viele alt gewordene ehemalige Knechte und Mägde sowie Verwandte von kleinen Höfen, die die Landwirtschaft aufgegeben hatten. Manchmal waren auch Alkoholiker unter den Pfleglingen, die besonders am Anfang des Monats nach Auszahlung des Taschengeldes auffielen. Einen betrunkenen Bewohner musste einmal ich eigenhändig mit einer Schubkarre nach Hause fahren, weil gerade keine Männer auf dem Hof waren.
Es waren neun harte, aber schöne Jahre. Wir lebten im Heim wie eine große Familie, und jeder hat nach seinen Kräften mitgeholfen. Für die Betreuung der Heimbewohner hatten wir nur eine Halbtagspflegerin, sonst haben sich die Bewohner gegenseitig geholfen. Bei längeren Krankheiten kamen sie ins Krankenhaus, und Pflegefälle mussten wir in die umliegenden Pflegeheime geben, was mir immer sehr weh tat. Mit dem Amtmann Jagow hatte ich ein gutes Verhältnis, er stammte selber von einem Bauernhof in Mecklenburg. Er kam jeden Monat einmal nach Wildeshausen, inspizierte die Felder, zählte das Vieh nach und verglich den Bestand mit meinen monatlich eingereichten Listen. Als er in den Ruhestand ging, wurden wir dem Jugendamt unterstellt. Das gab gleich Probleme mit einer Übernachtungszelle für aufgegriffene Jugendliche, die nicht mehr bei der Polizei untergebracht werden durften. Dafür wurde ein Raum im Stallgebäude ausgebaut, mit Wechselsprechanlage an mein Bett...
Seine letzte Stelle als Diakon und Sozialarbeiter beim Diakonischen Werk in Bremen beendete er 1990 mit Eintritt in den Ruhestand. Am 24.11.1989 verwitwete Karlheinz Franke. Jetzt verlebt er seit Jahren als Rentner der Seekasse seinen Lebensabend in seinem eigenen Haus in Wildeshausen.